An anderer Stelle hatte ich bereits beschrieben, dass unser Gehirn oft mit Hochrechnungen, also mit Erwartungen, arbeitet. Geht bei einem Menschen, egal ob jung oder alt etwas schief – z.B. weil in neuen Situationen mit neuen Menschen andere Ergebnisse auftauchen, als die von früher erwarteten – ist er enttäuscht. Positiv gesehen, kann man sagen, er wurde von einer Täuschung befreit. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die Dinge wieder neu und realtiätsnah zu sehen und sich anzupassen.
Den US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow (1908-1970) beschäftigte sich mit diesem Phänomen der Enttäuschung. Ihn beschäftigte die Frage: „Was braucht der Mensch?“
Aus seinen Beobachtungen an Probanden fand er vier Gruppen und entwickelte daraus die Vorstellung einer Bedürfnishierarchie: Zugehörigkeit, Aufmerksamkeit, Respekt und Selbstachtung.
Dabei hatte er die Vorstellung: „Was wir sein können, müssen wir sein.“ Seit Zeitgenosse Fritz Perls (1893-1970), berühmter Mitbegründer der Gestalttherapie nannte das: „Werde, wer Du bist.“
Maslow selbst hatte nie die Absicht, die Erkenntnisse in einer Pyramide darzustellen.
Das haben andere, vor allem Unternehmensberater gemacht. Gerade aber durch ihre vereinfachende Darstellung verschafften sie ihm weitreichende Bekanntheit. Noch heute wird das Maslow-Modell im BWL-Studium, in Fortbildungen und Firmen gerne benutzt und gilt als Klassiker.
1943 bereits veröffentlichte er unter dem Titel >A Theory of Human Motivation< (übersetzt: eine Theorie der menschlichen Motivation). Danach entwickelte er sein Modell weiter. 1954 erschien >Motivation and Personality<, >Motivation und Persönlichkeit< erschien in Deutsch erst 1977, ebenso wie das posthum 1971 erschienene >Further Reaches of Human Nature< >Die Psychologie der Wissenschaft. Neue Wege der Wahrnehmung und des Denkens<.
So wurden die Ideen des „human potential movements“ hierzulande erst in den 1980er Jahren bekannt und beeinflussten eine ganze Generation junger Psychotherapeuten. Heute sind viele der Ideen von damals in der Verhaltenstherapie integriert – oft ohne die zugehörigen Ideengeber zu benennen.
Abraham Maslow gilt, neben Fritz Perls, Victor Frankl und Carl Rogers, als einer der wichtigste Gründervater der humanistischen Psychologie. In deren Sichtweise wird seelischer Gesundheit als ganzheitliches Konzept (Körper-Seele-Einheit; Mensch-Umwelt-Beziehung) verstanden. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen, dass das menschliche Streben nach Selbstverwirklichung untersucht und gefördert wird.
Denn, so die Idee, wollen alle am Ende ein erfülltes Dasein.
Dabei werden die grundlegenden physiologischen Bedürfnisse, als Defizitbedürfnisse erlebt, da sich hier alle Dinge zusammenfinden, die der Mensch unbedingt benötigt, um körperlich zu überleben: Nahrung, Hunger, Durst, Verdauung, Schlaf, Wärme, Sexualität.
Zweitens steht die Sehnsucht nach Sicherheit (ebenfalls eine Defizitbedürfnis) ganz hoch im Kurs: wir wollen wissen, wer wir sind, wo wir sind, was wir können und was wir in Strukturen bringen, die unserem Leben ein festes Gerüst geben; also materielle und berufliche Sicherheit (Wohnen, Arbeit) ebenso wie Geborgenheit und Schutz der Person.
Drittens sind viele soziale Bedürfnisse als Mangel spürbar, wenn sie fehlen. Das Streben nach Zugehörigkeit zu einem sozialen Umfeld bot entwicklungsgeschichtlich Schutz und sicherte das Überleben (individuell und als Gruppe). Hier sind Liebe, Familie, Freundschaft, Gruppenzugehörigkeit zu nennen. Wir brauchen die Anerkennung von anderen, ihren Respekt und ihre Aufmerksamkeit.
Sind diese sozialen Grundbedürfnisse gestillt bzw. so stark frustriert, dass nach Ersatz gesucht wird, bilden die Individualbedürfnisse einen Sprung in eine neue Qualität: wir können uns Selbstachtung verschaffen.
Hier gelten Anerkennung / Geltung / Status / Macht, Lob und positive Beachtung als Wachstums-bedürfnisse und als wichtige motivationale Antriebe.
Wie wichtig diese Stufen für den Einzelnen sind, hängt von der individuellen Prägung und Einstellung dem Leben gegenüber ab. Jeder hat eine vorgegebene Lebensausrichtung, philosophisch, spirituell oder eher pragmatisch. Deshalb hat Maslow noch eine fünfte Stufe benannt, die er ICH nennt und an die Spitze dieser Wachstumsbedürfnisse stellte: das Streben nach Selbstverwirklichung, nach Entfaltung der Persönlichkeit (Persönlichkeitsentwicklung) und nach der Umsetzung eigener Ideen und Lebensvorstellungen.
Die Darstellungsform der Pyramide deutet an, dass die unteren Stufen an der Basis einen grundlegenden Charakter haben. Diese müssen (sollten) erfüllt sein, um auf den nächsten Stufen sicher stehen zu können. Sie zeigt jedoch auch, dass, je weiter man nach oben man kommt, die jeweiligen Bereiche um so schmaler werden; dass immer weniger Menschen diese Möglichkeiten realisieren. Andererseits könnte man auch sagen, dass die oberen Stufen „Nice to have“ (schön, wenn man es hat), aber eben auch nicht unbedingt überlebensnotwendig sind.
Anregung und Quelle: gleichnamiger Artikel von Roland Mischke im Gießener Anzeiger, 05.06.2020;
Wikipedia und eigene Erfahrungen mit der humanistischen Psychologie