Wir sehen die Dinge nicht,
wie sie sind;
wir sehen sie so,
wie wir sind.
Das Gehirn als Prognosemaschine
Was echt ist und was nicht, erscheint in unserer heutigen Gesellschaft zunehmend beliebig zu werden … und zeigt sich in zunehmendem Maße als ganz real gefährlich.
In besonderem Maße nehmen z.B. Kriegsparteien unterschiedliche Realitäten wahr und glauben fest daran.
Aber auch bevor es Krieg wird, stehen sich Gruppen mit ihren Vorurteilen oft feindselig gegenüber.
Grundlegend unterschiedliche innere Universen (Vorstellungswelten) finden wir aber nicht nur bei Kriegen und Psychosen. Sie sind unser Alltag.
Wie leicht sich unsere Wahrnehmungssysteme austricksen lassen, wissen wir alle und sehen es oben am Beispiel einer optischen Täuschung.
Die Annahme, ein richtig funktionierendes Gehirn würde dem Bewusstsein die Dinge genau so präsentieren, wie sie wirklich sind, zeigt sich (schon bei der optischen Täuschung) als Fehleinschätzung.
Tatsächlich besitzen wir kein direktes Fenster zu einer objektiven Realität.
Schon im 17. Jahrhundert unterschied der englische Philosoph John Locke (1632-1704) zwischen „primären“ und „sekundären“ Qualitäten.
Die „primären“ Qualitäten eines Objekts, wie seine Festigkeit oder der Raum, den es einnimmt, existieren unabhängig von demjenigen, der sie wahrnimmt. „Sekundäre“ Qualitäten, wie etwa Farbe, gibt es dagegen nur durch den Betrachter.
Denn seit Isaac Newton ( 1642-1726) wissen wir jedoch, dass Farben in der Außenwelt nicht existieren. Sie werden vielmehr vom Gehirn aus Mischungen farbloser elektromagnetischer Strahlung unterschiedlicher Wellenlängen zusammengebaut.
Zudem nehmen wir Menschen nur einen winzigen Ausschnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum zwischen Infrarot bis Ultraviolett wahr. Damit können Wahrnehmungserlebnisse keine umfassende Wiedergabe einer objektiven Außenwelt darstellen.
Vielmehr, so der heutige Stand der Erkenntnis, stellt unser Gehirn fortlaufend Vermutungen über die Welt da draußen an und gleicht Sinneseindrücke ab, um damit die Realität zu konstruieren, die wir dann wahrnehmen. Es erzeugt sozusagen eine Art kontrollierte Halluzination.
Dennoch ist daraus keineswegs zu folgern, dass nichts real wäre.
Die Interpretation der Wahrnehmung als kontrollierte Halluzination bedeutet also nicht, dass es klug wäre, Wahrnehmungen aus der Welt für illusionär zu erklären und z.B. vor ein Auto zu laufen.
Die Realität, die wir erleben, ist mal weniger, mal mehr als das was außen wirklich da ist.
Die Welt, wie sie zu sein scheint, spiegelt nicht unbedingt wieder, was tatsächlich vorhanden ist. Unser Geist schafft sich seine Realität.
Es handelt sich also nicht um ein passives Aufnehmen einer äußeren, objektiven Realität, sondern um einen aktiven Konstruktionsprozess – eine kontrollierte Halluzination:
Andauernd entwickelt und aktualisiert das Gehirn plausible Hypothesen (Annahmen) über Sinneseindrücke. Hierfür kombiniert es frühere Erwartungen oder „Überzeugungen“ über die Welt mit den neu hinzukommenden sensorischen Daten, die über Augen, Ohren, Nase, Fingerspitzen und alle weiteren sensorischen Kanäle eintreffen, und berücksichtigt dabei auch die Zuverlässigkeiten der Signale.
Aus den Unterschieden zwischen vorhergesagten und tatsächlichem Input resultiert der „Vorhersagefehler“, mit dem das Gehirn die Prognosen aktualisiert und sich auf die nächste Runde vorbereitet.
Dabei sucht es stets, die Abweichung so niedrig wie möglich zu halten.
Die daraus sich ergebende plausible Vermutung ist dann das, was wir letztlich wahrnehmen.
Unsere Wahrnehmungswelt besteht also aus kontrollierten Halluzinationen, mit denen das Gehirn Vermutungen über die unergründlichen Ursachen der sensorischen Signale aufstellt.
Die meisten von uns erleben solche kontrollierten Halluzinationen als real – allerdings nicht immer.
Manchen Menschen (z.B. in dissoziativen Zuständen) empfinden ihre wahrgenommene Welt oder ihr eigenes Ich als irreal.
Da die Eindrücke, mit denen jedes Gehirn arbeitet, entstehen im Umfeld des eigenen, ganz individuellen Lebens- und seiner Informationsgeschichte. Daher lebt jeder von uns in seiner eigenen (inneren) Welt, die sich von derjenigen der anderen Mitmenschen unterscheidet.
Immer kommt es sehr darauf an, wie wir damit umgehen.
Wir können eine eher spaltende, Unterschiede betonende, pessimistische oder eine Zusammenhänge betonende, integrierende, tolerante, optimistische Grundhaltung einnehmen.
Je nachdem entstehen unterschiedliche Erwartungen, vershiedenartiges Erleben und eigene Weltbilder … mit mehr oder weniger Spielraum zur Alltagsbewältigung.
Quellen: Seth, Anil K.: „Wahrnehmung – Unsere inneren Universen„, in Spektrum der Wissenschaft 2.20, 2020, S. 18-24, URL: (Stand: 01.02.2020) und https://www.michaelditsch.de/koerper-psyche/individuelle-realitaet