Regeln lernen – auch ohne „Nein, nein“

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Besser auf Augenhöhe: Statt aus dem Nebenzimmer zu schimpfen, sollten Eltern Kindern konkret erklären, dass etwa alle Spielsachen vom Boden in die Kiste sollen.

Foto: Andrea Warnecke/dpa-tmn; Bild: dpa-infocom GmbH

Das Kind sollte längst in der Kita sein, denn die Arbeit ruft. Doch der kleine Trotzkopf zieht sich einfach nicht an. Jetzt bloß nicht schimpfen, sagt eine Expertin. Denn das frisst nur noch mehr Zeit.

„Verdammt noch mal, wie oft soll ich es dir noch sagen?!“ Wie viele Kinder hören diesen blöden Spruch tagein, tagaus von ihren gestressten Eltern.
Aber wahrscheinlicher ist, dass sie den Text gar nicht hören – weil er in ein Ohr reingeht und zum anderen wieder raus. Nein, die Kinder lernen an der Stelle vor allem, dass dieser Ton und diese Lautstärke OK sind. Hier passiert sehr schnell „Lernen durch Nachahmen“ und kaum eine Zeit später, bekommen die Eltern das Echo dieser eigenen „Ungezogenheit“, der fehlenden Ruhe und Gelassenheit, des fehlenden Nachdenkens und Reflektierens über das eigene Tuns, zurück.

Warum bringt Schimpfen nichts?
Nicola Schmidt: „Sobald man schimpft, verliert man den Kontakt zum Kind.
Mal angenommen, man würde einen Partner oder einen Kollegen kreischend anblaffen, wie oft man ihm etwas noch sagen solle. Der würde doch auch sofort dicht machen.

Als sehr hilfreich sehe ich (Dr. med. Alfons Lindemann, ärztl. Psychotherpeut) hier das Modell einer Ampel: steht die Ampel auf Grün (man ist entspannt und gelassen, rational), darf man fahren bzw. handeln. Bei Gelb (das ist man schon emotionaler) gilt Achtung, bitte bleib in einem Bereich, den du noch regulieren kannst. Bei Orange-Gelb wird es schon sehr kritisch und bei Rot muss man sich in jedem Fall stoppen. Verlassen Sie die Situation, beenden Sie jede Diskussion. In diesem Zustand – bis die ausgeschütteten Hormone nach ca. 20 – 30 Min. aus dem Blut sind – ist nur noch Eskalation möglich. Da ist man von der Dynamik des Geschehens versklavt!
Denn dann wechselt der Modus der Alltagslogik, in dem man kreativ denken kann, in den Modus der Affektlogik. Dort herrschen nur noch archaische, uralte Instinkte, die dazu ausgelegt waren, vor einem Fressfeind zu fliehen oder sich im verwegen mit äußerster Aggression entgegenzustellen … oder, wenn gar nichts mehr geht, sich tot zu stellen, nichts mehr zu merken.

Es gibt Situationen, da fühlen sich Eltern unter Druck. Damit dann etwas vorangeht, scheint Schimpfen der einzige Ausweg.
Es ist jedoch ein Zustand in dem der Erwachsene selbst in Panik ist, keine Lösung, keinen Ausweg mehr sieht, außer aggressiv vorzugehen, zu Schreien, sich in Drohgebärden zu ergehen oder gar wirklich gewalttätig zu werden. (Letztlich möchte man den anderen ja erreichen!)
Aber diese Umgangsformen können auch vom Gegenüber nicht mehr als freundlich, bemüht und „im Grunde genommen“ sinnvoll aufgefasst werden.
Wenn Sie das also merken, sind Sie oder Ihr Kind schon im roten Bereich sind, also im Notfallmodus, in dem kreatives Denken und Perspektivenwechsel kaum noch möglich sind, weil hier ausgeschüttete Hormone mitsteuern: Dann ist das für den Erwachsenen ein klares STOPP-Zeichen!
Was immer das Kind dann tut. Das eigen Gefühl dazu beim Erwachsenen spiegelt hier in der Regel den emotionalen Zustand des Kindes: beide fühlen sich in Not und reagieren nur nach den Gesetzten der Affektlogik, also irrational = ohne Vernunft. Hier regiert unser Reptiliengehirn, vom vernünftigen menschlichen Bewusstsein ist nun kaum etwas übrig!
Beide brauche dringend Beruhigung und Trost und Zeit, damit die Stresshormone wieder aus dem Blut ausgefiltert werden können (ca. 30 Minuten, manchmal länger). Verständnis und Hilfestellung oder zumindest Abstand, um nicht mehr mit dem als bedrohlich erlebten Gegenüber (das mir seine Sicht der Welt aufdrängen will) konfrontiert zu sein.

Schmidt: „Wenn Eltern gestresst sind, schalten sie in den Alarmmodus.
Viele Verhaltensweisen der Kinder erscheinen als Bedrohung, die man nur eindämmen müsse, damit Kinder funktionieren. Doch unter Dauerstress fällt es uns schwer, mit den Kindern mitzufühlen.“
(Unbewusst sind eigene schmerzliche Erfahrungen aus der Kindheit angesprochen, die man als Erwachsener wegen der kindlichen Amnesie nicht mehr bewusst erinnert. Dennoch sind die Erfahrungen da und wirken gerade deshalb, weil wir sie nicht wissen, durchschlagend. Im Wiederholen, indem wir nun auch dem eigenen Kind das antut, was wir selbst erlitten haben, müssen wir nicht mehr alleine leiden und allein sein mit diesen schrecklichen Gefühlen. Erwachsene erleben das kindliche Verhalten als Provokation und als drücken „roter Knöpfe“; erkennen nicht, das sich hier szenisch die Möglichkeit der Erinnerung bietet. Innen tobt ein Loyalitätskonflikt zwischen Kindes- und Elternliebe, da man hier im Tun, im ähnlich sein, unbewusst seinen eigenen Eltern noch mal nahe sein kann. usw. …
Dabei fühlt es sich an, als ob man diesen Reaktionen ausgeliefert wäre, statt sie aktiv zu steuern.
Für eine Veränderung solcher Muster und Selbstbestimmung ist es notwendig, sich die eigenen Themen genau anzuschauen, zu trauern und durch Anerkennen dessen, was war, seinen Frieden damit zu finden. (Anm.d.Verf.))

Wie reagieren Eltern im Idealfall mitfühlend?
Schmidt: Wie oft rufen Eltern aus dem Nachbarzimmer vier, fünf, sechs, sieben, acht Mal Anweisungen wie: „Räum deine Legokiste ein!“ „Zieh dich an!“, „Putz die Zähne!“
Das hören Kinder gar nicht. Dazu sind sie viel zu vertieft.
Statt wie eine Schallplatte zu klingen, ist es besser, direkt zu dem Kind zu gehen.
Auch lautes Schreien signalisiert dem Kind lediglich, dass diese Tonart OK ist.
Der Sinngehalt von lautem Text ist ja kein anderer, als der des ruhigen Tons!
Kinder imitieren die Erwachsenen, weil sie auch so toll und groß sein möchten, wie die Eltern.
Die beste Unterstützung des Kindes ist also die Arbeit an sich selbst: das Vorleben des gewünschten Verhaltens; es hinbekommen, es sich gut gehen zu lassen, Denn nur attraktives wirkt anziehend.

Lindemann: Mit Abstand, mit Blick auf den Prozess, lässt sich die Situation besser einschätzen, um eine kreativen Ausweg aus einer Situation zu finden, die beiden oder der Situation hilft. Die Forderung geht klar an den Erwachsenen, der die Situation besser überblickt und auch durchzusetzen und zu verantworten hat. (Viele Eltern scheuen heute einen Konflikt. Doch auch den brauchen die Kinder so notwendig, wie das eingebettet sein in die Liebe der Eltern, in deren Vertrauen und Zutrauen.)
Nur im direkten Kontakt mit dem Kind kann man Augenkontakt aufnehmen. (In Ihr Handy sprechen Sie ja auch nicht, bevor sie die Nummer gewählt und den „grünen Knopf“ gedrückt haben, das Gegenüber sich gemeldet hat, oder?) Und dann?
Schmidt: Dann hockt, kniet oder setzt man sich auf gleiche Augenhöhe und berührt das Kind.
Beim Sprechen nicken, lächeln und klar machen „Ich kenne das auch, dass man manchmal nicht Schluss machen möchte, ich möchte jetzt, dass wir…“.
So kann sich das Kind ernst genommen fühlen, statt von oben herab behandelt.
Wichtig ist auch, persönlich zu bleiben. Man sollte nie sagen: „Das macht man nicht“. Stattdessen kommt es besser an, etwa zu sagen: „Ich will, dass du nicht kippelst. Das ist mir zu unruhig.“
Lindemann: Diese sogenannten „Ich-Botschaften“ machen Aussagen verbindlich und nachvollziehbar. Das ist das allgemeine „Gedoodel“ mit einem unpersönlichen „man“ oder „Du“-Zuschreibungen nicht (denn bei den „Du-bist-Sätzen“ fehlt immer der Vorspann: „ich finde, Du bist …“. Es ist nämlich nie eine objektive Aussage, sondern immer eine von mir subjektiv getroffene Zuschreibung. Und Ihr schlaues Kind weiß das intuitiv.

Frau Schmidt schlägt vor, das Wort „Nein“ zu verbannen und dafür eine Ja-Umgebung zu schaffen. Wie soll das funktionieren?
Schmidt: Wenn man dem Kind immer nur „Nein, Nein“ sagt, lernt es keine Regeln.
Auch wenn Sie umgekehrt verbreiten, das Kind solle „lieb“ sein; was soll ein Kind darunter verstehen?
Lindemann: Sagen Sie doch einfach, was Sie wollen oder was Ihnen als Regel wichtig ist.
Schließlich sind Sie als Eltern die gesetzlich Erziehungsberechtigten (wie es irrtümlich so schön heißt). Nein wirklich, Eltern sind Erziehungsverantwortlich, d.h. anleitend – auch wenn alle sich immer gegenseitig „erziehen“ und gerne die Dinge wiederholen, die funktionieren, die Spaß machen, also emotional besetzt werden können, oder zumindest regelmäßig vorkommen.

Wie geht ein „empathisches Nein“?
Schmidt: Angenommen das Kind will unbedingt noch eine spätere Sendung sehen. Statt sich ein Nein-Doch-Gefecht zu liefern kann man entgegnen: „Ich höre dich. Es geht nicht. Aber was ist so cool oder lustig an der Sendung?“ Und dann ist man im Gespräch über die Sendung und nicht mehr über das Ja-oder-Nein. Oder Sie lenken das Gespräch auf die Regel und den Sinn dessen. Oder Sie fragen einfach mal nach dem Grund, warum es dem Kind so wichtig ist und hören zu. Das kann sehr helfen, eine bessere Verständigung und ein besseres Verstehen zu ermöglichen.
Oder wenn Kinder kurz vor dem Abendessen wilde Dinge vorschlagen, wie jetzt noch kurz ins Schwimmbad zu gehen. Eine Erziehen-ohne-Schimpfen-Reaktion wäre z.B.: „Eine tolle Idee! Würde ich auch gern. Aber hast du eine Idee, wie wir das in einer Stunde schaffen können, ohne uns total abzuhetzen?“ So erkennt man die Idee an und kann zusammen überlegen, warum das nicht klappt oder ob es alternative Möglichkeiten gibt. Denn sehr wahrscheinlich gibt es einen (zumindest im kindlichen Kopf) sinnvollen Beweggrund, der Ihr Kind auf die Idee gebracht hat.

Viele Eltern kennen das: Gehetzt holen Sie ihre Kinder von der Kita ab und haben schon die nächste Aktion im Kopf: Jetzt noch schnell Einkauf, Paket abholen, Reinigung…
Lindemann: Übersetzt heißt das: sie sind nicht da, wo sie sind, nicht Hier und Jetzt, sondern gedanklich schon Da und Dort … allerdings, ohne auf Da und Dort im Hier und Jetzt schon Einfluss nehmen zu können. Dafür aber verpassen Sie das, was ist. … und das vermutlich mehrfach, wenn das Muster nicht erkannt und unterbrochen wird. Zu spüren ist solch ein Verhaltensmodus meist an Unzufriedenheit, Unausgeglichenheit, Schlafstörungen, Lustlosigkeit, Sarkasmus, negativem Gedankenkreisen usw.

Schmidt: …und da wundern Sie sich, dass die meiste Zeit mit Quengeln, Schreien, Wutanfällen und Schimpfen über die Bühne geht? Nicht wirklich, oder?
Ich rate immer: Erstmal nach der Kita eine halbe Stunde Zeit zum Kuscheln nehmen, bevor man irgendwas anderes macht. Glauben Sie mir: Das geht schneller und ist gut investierte Zeit.
Unter dem Motto: Zeit „verlieren“, um viel mehr „Zeit zu gewinnen“.
Lindemann: Das ist ein lustiges Motto, wo der Tag doch immer gleich 24 Stunden hat! Wo soll da der Gewinn herkommen? Es kann also kein Zeitgewinn entstehen! Setzt man die Prioritäten jedoch anderes, so dass man präsent ist, also im Präsens, im Hier und Jetzt. So gibt es einen erheblichen Gewinn an Da-Sein, am miteinander sein können,an befriedigenden Erlebnissen, weil es echten, gefühlten Kontakt gibt.

Quellen: Nicola Schmidt: Erziehen ohne Schimpfen, Gräfe und Unzer, 176 Seiten, 16,99 Euro, ISBN-13: 978-3-8338-6856-6.
https://www.nwzonline.de/familie-meldungen/schimpfen-bringt-nichts-wie-kinder-regeln-am-besten-lernen_a_50,5,2348186408.html
Gießener Anzeiger, 9.9.2019
Dr. A. Lindemann: eigene Erfahrungen und theoretisches Wissen darum, wie unser Gehirn so funktioniert.

Fortsetzung

Wenn, dann … – Sätze konstruieren Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein anderes Ereignis (meist in der Zukunft) eintritt.
Solche Aussagen grenzen schon für Erwachsene an Wahrsagerei; Kindern machen diese Ankündigungen einfach nur Angst.
„Wenn Du nicht gleich aufräumst, dann …“
„Wenn Du nicht aufhörst, gegen den Sitz zu treten, werfe ich Dich aus dem Auto.“
Solche Drohungen sind bei Normalbürgern einfach absurd und sowieso nicht durchzuhalten. Zudem schleifen sich solche Aussagen, mehrfach gebraucht, einfach nur ab und Kinder können die Erwachsenen nicht mehr ernst nehmen. Damit geht ihnen notwendige Führung verloren.

Wer also solche Sätze formuliert, sollte sich genau überlegen, was damit bezweckt wird und was damit tatsächlich erreicht wird und ob er selbst die Bedingungen einhalten kann, die er da aufstellt.
Drohungen gegenüber Kindern sind keine gute Idee. Sie Zerstören Vertrauen.

Außerdem lügen sich die Eltern mit solchen Sätzen meist nur selbst in die Tasche – denn Drohungen die sie nicht umsetzen (können), demonstrieren, dass die Eltern sich selbst nicht ernst nehmen und ergeben damit eine Schwächung des eigenen Selbst, Damit leidet das Sicherheitsbedürfnis des Kindes.

Kinder brauchen kongruentes (in allen Punkten übereinstimmendes) und konsequentes (folgerichtiges, schlüssiges) Verhalten.
Also wenn schon Sanktionen erfolgen, dann muss das rasch / zeitnah / unmittelbar sein, damit das Kind auch die Zusammenhänge korrekt verknüpfen kann.
Konsequenzen sollten dabei immer angemessen sein.
Hat man in seiner Not 3 Tage Stubenarrest ausgesprochen, sollte man die Größe haben, das in einem klärenden Gespräch – wenn sich die Gemüter beruhigt haben – zurückzunehmen.
Wichtig wäre hier auch, dem Kind einmal zuzuhören. Denn es hat(te) auch Beweggründe für sein Verhalten, das in seiner Sicht der Welt möglicherweise für den eigenen Selbsterhalt essentiell war.

Will man Kindern allerdings Regeln und Grenzen oder Normen beibringen, können Wenn-dann-Sätze allerdings durchaus sinnvoll sein, um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu erklären.
Wenn das Kind um die Regeln weiß und sie bricht, ist es wichtig auf die Grenzübertretung angemessen zu reagieren oder Verbote auszusprechen.
Das Aufzeigen von Konsequenzen: „Wenn Du Deine Hausaufgaben nicht machst, bekommst Du in der Schule Ärger“, ist also durch aus sinnvoll.
Aber auch hier lohnt es meist, sich Zeit zum Zuhören zu nehmen.

Quelle: Gießener Anzeiger, 24. 2. 2020

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