Das Kind sollte längst in der Kita sein, denn die Arbeit ruft. Doch der kleine Trotzkopf zieht sich einfach nicht an. Jetzt bloß nicht schimpfen, sagt eine Expertin. Denn das frisst nur noch mehr Zeit.
„Verdammt noch mal, wie oft soll ich es dir noch sagen?!“ Wie viele Kinder hören diesen blöden Spruch tagein, tagaus von ihren gestressten Eltern.
Aber wahrscheinlicher ist, dass sie den Text gar nicht hören – weil er in ein Ohr reingeht und zum anderen wieder raus. Nein, die Kinder lernen an der Stelle vor allem, dass dieser Ton und diese Lautstärke OK sind. Hier passiert sehr schnell „Lernen durch Nachahmen“ und kaum eine Zeit später, bekommen die Eltern das Echo dieser eigenen „Ungezogenheit“, der fehlenden Ruhe und Gelassenheit, des fehlenden Nachdenkens und Reflektierens über das eigene Tuns, zurück.
Warum bringt Schimpfen nichts?
Nicola Schmidt: „Sobald man schimpft, verliert man den Kontakt zum Kind.
Mal angenommen, man würde einen Partner oder einen Kollegen kreischend anblaffen, wie oft man ihm etwas noch sagen solle. Der würde doch auch sofort dicht machen.
Als sehr hilfreich sehe ich (Dr. med. Alfons Lindemann, ärztl. Psychotherpeut) hier das Modell einer Ampel: steht die Ampel auf Grün (man ist entspannt und gelassen, rational), darf man fahren bzw. handeln. Bei Gelb (das ist man schon emotionaler) gilt Achtung, bitte bleib in einem Bereich, den du noch regulieren kannst. Bei Orange-Gelb wird es schon sehr kritisch und bei Rot muss man sich in jedem Fall stoppen. Verlassen Sie die Situation, beenden Sie jede Diskussion. In diesem Zustand – bis die ausgeschütteten Hormone nach ca. 20 – 30 Min. aus dem Blut sind – ist nur noch Eskalation möglich. Da ist man von der Dynamik des Geschehens versklavt!
Denn dann wechselt der Modus der Alltagslogik, in dem man kreativ denken kann, in den Modus der Affektlogik. Dort herrschen nur noch archaische, uralte Instinkte, die dazu ausgelegt waren, vor einem Fressfeind zu fliehen oder sich im verwegen mit äußerster Aggression entgegenzustellen … oder, wenn gar nichts mehr geht, sich tot zu stellen, nichts mehr zu merken.
Es gibt Situationen, da fühlen sich Eltern unter Druck. Damit dann etwas vorangeht, scheint Schimpfen der einzige Ausweg.
Es ist jedoch ein Zustand in dem der Erwachsene selbst in Panik ist, keine Lösung, keinen Ausweg mehr sieht, außer aggressiv vorzugehen, zu Schreien, sich in Drohgebärden zu ergehen oder gar wirklich gewalttätig zu werden. (Letztlich möchte man den anderen ja erreichen!) Aber diese Umgangsformen können auch vom Gegenüber nicht mehr als im Grunde genommen nützlich und sinnvoll aufgefasst werden.
Wenn Sie das also merken, sind Sie schon im roten Bereich. Das ist für den Erwachsenen ein klares STOPP-Zeichen!
Was immer das Kind dann tut. Das eigen Gefühl spiegelt hier in der Regel den emotionalen Zustand des Kindes: beide fühlen sich in Not und reagieren nur nach den Gesetzten der Affektlogik, also irrational = ohne Vernunft. Hier regiert unser Reptiliengehirn, vom menschlichen Bewusstsein ist nun kaum etwas übrig! Beide brauche dringend Beruhigung und Trost, Verständnis und Hilfestellung oder zumindest Abstand, um nicht mehr mit dem bedrohlichen Gegenüber (das mir seine Sicht der Welt aufdrängen will) konfrontiert zu sein.
Schmidt: „Wenn Eltern gestresst sind, schalten sie in den Alarmmodus.
Viele Verhaltensweisen der Kinder erscheinen dann als Bedrohung, die man nur eindämmen müsse, damit Kinder funktionieren. Doch unter Dauerstress fällt es uns schwer, mit den Kindern mitzufühlen.“
Wie reagieren Eltern im Idealfall mitfühlend?
Schmidt: Wie oft rufen Eltern aus dem Nachbarzimmer vier, fünf, sechs, sieben, acht Mal Anweisungen wie: „Räum deine Legokiste ein!“ „Zieh dich an!“, „Putz die Zähne!“
Das hören Kinder gar nicht. Dazu sind sie viel zu vertieft.
Statt wie eine Schallplatte zu klingen, ist es besser, direkt zu dem Kind zu gehen.
Lindemann: Dort lässt sich die Situation besser einschätzen, um eine kreativen Ausweg aus einer Situation zu finden, die beiden oder der Situation, die der Erwachsene besser überblickt und auch durchzusetzen und zu verantworten hat. (Viele Eltern scheuen heute einen Konflikt. Doch auch den brauchen die Kinder so notwendig, wie das eingebettet sein in die Liebe der Eltern, in deren Vertrauen und Zutrauen.)
Nur im direkten Kontakt mit dem Kind kann man Augenkontakt aufnehmen. (In Ihr Handy sprechen Sie ja auch nicht, bevor sie die Nummer gewählt und den „grünen Knopf“ gedrückt haben, das Gegenüber sich gemeldet hat, oder?) Und dann?
Schmidt: Dann hockt, kniet oder setzt man sich auf gleiche Augenhöhe und berührt das Kind.
Beim Sprechen nicken, lächeln und klar machen „Ich kenne das auch, dass man manchmal nicht Schluss machen möchte, ich möchte jetzt, dass wir…“.
So kann sich das Kind ernst genommen fühlen, statt von oben herab behandelt.
Wichtig ist auch, persönlich zu bleiben. Man sollte nie sagen: „Das macht man nicht“. Stattdessen kommt es besser an, etwa zu sagen: „Ich will, dass du nicht kippelst. Das ist mir zu unruhig.“
Lindemann: Diese sogenannten „Ich-Botschaften“ machen Aussagen verbindlich und nachvollziehbar. Das ist das allgemeine „Gedoodel“ mit einem unpersönlichen „man“ oder „Du“-Zuschreibungen nicht (denn bei den „Du-bist-Sätzen“ fehlt immer der Vorspann: „ich finde, Du bist …“. Es ist nämlich nie eine objektive Aussage, sondern immer eine von mir subjektiv getroffene Zuschreibung. Und Ihr schlaues Kind weiß das intuitiv.
Frau Schmidt schlägt vor, das Wort „Nein“ zu verbannen und dafür eine Ja-Umgebung zu schaffen. Wie soll das funktionieren?
Schmidt: Wenn man dem Kind immer nur „Nein, Nein“ sagt, lernt es keine Regeln.
Auch wenn Sie umgekehrt verbreiten, das Kind solle „lieb“ sein; was soll ein Kind darunter verstehen?
Lindemann: Sagen Sie doch einfach, was Sie wollen oder was Ihnen als Regel wichtig ist.
Schließlich sind Sie als Eltern die gesetzlich Erziehungsberechtigten (wie es irrtümlich so schön heißt). Nein wirklich, Eltern sind Erziehungsverantwortlich, d.h. anleitend – auch wenn alle sich immer gegenseitig „erziehen“ und gerne die Dinge wiederholen, die funktionieren, die Spaß machen, also emotional besetzt werden können, oder zumindest regelmäßig vorkommen.
Wie geht ein „empathisches Nein“?
Schmidt: Angenommen das Kind will unbedingt noch eine spätere Sendung sehen. Statt sich ein Nein-Doch-Gefecht zu liefern kann man entgegnen: „Ich höre dich. Es geht nicht. Aber was ist so cool oder lustig an der Sendung?“ Und dann ist man im Gespräch über die Sendung und nicht mehr über das Ja-oder-Nein. Oder Sie lenken das Gespräch auf die Regel und den Sinn dessen. Oder Sie fragen einfach mal nach dem Grund, warum es dem Kind so wichtig ist und hören zu. Das kann sehr helfen, eine bessere Verständigung und ein besseres Verstehen zu ermöglichen.
Oder wenn Kinder kurz vor dem Abendessen wilde Dinge vorschlagen, wie jetzt noch kurz ins Schwimmbad zu gehen. Eine Erziehen-ohne-Schimpfen-Reaktion wäre z.B.: „Eine tolle Idee! Würde ich auch gern. Aber hast du eine Idee, wie wir das in einer Stunde schaffen können, ohne uns total abzuhetzen?“ So erkennt man die Idee an und kann zusammen überlegen, warum das nicht klappt oder ob es alternative Möglichkeiten gibt. Denn sehr wahrscheinlich gibt es einen (zumindest im kindlichen Kopf) sinnvollen Beweggrund, der Ihr Kind auf die Idee gebracht hat.
Viele Eltern kennen das: Gehetzt holen Sie ihre Kinder von der Kita ab und haben schon die nächste Aktion im Kopf: Jetzt noch schnell Einkauf, Paket abholen, Reinigung…
Lindemann: Übersetzt heißt das: sie sind nicht da, wo sie sind, nicht Hier und Jetzt, sondern gedanklich schon Da und Dort … allerdings, ohne auf Da und Dort im Hier und Jetzt schon Einfluss nehmen zu können. Dafür aber verpassen Sie das, was ist. … und das vermutlich mehrfach, wenn das Muster nicht erkannt und unterbrochen wird. Zu spüren ist solch ein Verhaltensmodus meist an Unzufriedenheit, Unausgeglichenheit, Schlafstörungen, Lustlosigkeit, Sarkasmus, negativem Gedankenkreisen usw.
Schmidt: …und da wundern Sie sich, dass die meiste Zeit mit Quengeln, Schreien, Wutanfällen und Schimpfen über die Bühne geht? Nicht wirklich, oder?
Ich rate immer: Erstmal nach der Kita eine halbe Stunde Zeit zum Kuscheln nehmen, bevor man irgendwas anderes macht. Glauben Sie mir: Das geht schneller und ist gut investierte Zeit.
Unter dem Motto: Zeit „verlieren“, um viel mehr „Zeit zu gewinnen“.
Lindemann: Lustiges Motto, wo der Tag doch immer gleich 24 Stunden hat! Wo soll da der Gewinn herkommen? Es kann also kein Zeitgewinn entstehen! Setzt man die Prioritäten jedoch anderes, so dass man präsent, also im Präsens, im Hier und Jetzt, ist, so gibt es einen erheblichen Gewinn an Da-Sein, am miteinander sein können,an befriedigenden Erlebnissen, weil es echten, gefühlten Kontakt gibt.
Quellen: Nicola Schmidt: Erziehen ohne Schimpfen, Gräfe und Unzer, 176 Seiten, 16,99 Euro, ISBN-13: 978-3-8338-6856-6.
https://www.nwzonline.de/familie-meldungen/schimpfen-bringt-nichts-wie-kinder-regeln-am-besten-lernen_a_50,5,2348186408.html
Gießener Anzeiger, 9.9.2019
Lindemann: eigene Erfahrungen und theoretisches Wissen darum, wie unser Gehirn so funktioniert.Schlagwörter: Ampel-Modell, Augenkontakt, Erziehen ohne Schimpfen, Regeln lernen