Alters-Einsamkeit

Schon ab 50 Jahren nimmt bei Menschen, die wenig soziale Kontakte haben, die Struktur der grauen Hirnsubstanz stärker ab – und damit die kognitive Leistungsfähigkeit (Gedächtnis, Aufmerksamkeit, geistige Flexibilität z,B.) – als bei Personen, die weniger isoliert sind – so das Max-Plank-Institut für Kognition und Neurowissenschaften, Leipzig.

(Quelle: dt. Ärzteblatt, Jg. 120, Heft 31-32, 7. 8. 2023, S. A1299)

Gerade noch wurde allenthalben „frohe Weihnachten“ gewünscht. Doch Freude, ja echte Begeisterung und Gemeinschaftserleben waren allerdings eher bei Fußballfans, denn in Familien oder Kirchen zu erleben, selbst bei der umstrittenen Winter-Weltmeisterschaft in Katar.
Die Beachtung der Weihnachtsbotschaft, die Erinnerung an ein Zusammenstehen, die Freude über das Wiedererwachen der Natur, geht im Konsum immer mehr verloren, ebenso wie verbindende soziale Kontakte und pflegende oder begleitende Kräfte in unserer Gesellschaft nur formal zu den systemrelevanten Gruppen gezählt werden.

In Deutschland fühlt sich jeder 5. über 85 Jahre alte Mensch und jeder 7. zwischen 45 – 65 Jahren einsam.
Einsam meint hier das Gefühl des inneren Getrenntseins von anderen, von sozialen Beziehungen und Benötigtwerden, vom eigenen Ich-Ideal oder von subjektiv bedeutsamen Sinnbezügen; letztlich verweist diese Selbstkonstruktion auf einer ganz persönlichen Ebene auf ein gestörtes Selbst- und Weltempfinden – aber eben auch ganz real auf ein gesellschaftlich höchst relevantes Thema.

Das Risiko an Altersdemenz zu erkranken ist bei einsamen Menschen doppelt so hoch, die Zahl der Suchtkranken Senioren steigt (1,7-2,8 Millionen Menschen nehmen mehr Medikamente als gesund ist, fast 30 % trinken zu viel Alkohol oder kaufen über Telesh0pping Zeug, das sie nicht brauchen), zudem ist die Sterblichkeit vergleichbar stark – über Risikofaktoren Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel – erhöht, ebenso wie Erschöpfung und Depression in dieser Gruppe deutlich zunehmen.

Wolkenhimmel

Der Psychiater Prof. M. Spitzer hält Einsamkeit gar für die Todesursache Nummer ein in westlichen Ländern, da die moderne Lebensform eine dauerhafte Vereinzelung und Vereinsamung mit sich bringen (die Zahl der Großfamilien nimmt ab, die Scheidungsraten, ebenso wie Kinderlosigkeit, gehen hoch, ebenso wie die Anzahl der Singel-Haushalte – zB. bei 75jährigen sind es 52 %).
Auch die Langlebigkeit ist eine wichtige demographische Größe geworden: 1980 gab es 1,53 Mio. 80jährige, 2025 werden es 4,63 Mio. sein.
Hinzu kommt ein Ethos von Jugendlichkeit und Originalität (Einzigartigkeit); was Autonomie, Multioptionalität (vieles, „alles“ ist möglich), Enttraditionalisierung (mit Orientierungslosigkeit einhergehend) und Performanz (die Leistung) beinhaltet. Alter hingegen gilt als begrenzt, unproduktiv und sinnlos – was die Gefahr beinhaltet, sich diese Werthaltung zu Herzen zu nehmen, sich zu eigen zu machen, statt kritisch zu hinterfragen und persönliche Kompetenzen zu nutzen und soziale Ressourcen aktiv zu gestalten.

Aus psychologischer Perspektive ist es sicherlich so, dass Menschen mit zunehmendem Alter intensiver mit der Endlichkeit ihres persönlichen Daseins konfrontiert sind. Zudem müssen reale Verlusten von nahestehenden Personen oder gesellschaftlichen Aufgaben und eigener körperlicher Abbau bewältigt werden … was auch immer mit Korrekturen der bislang wie selbstverständlich geltenden Vorstellung vom eigenen Ich und seinem Sein in der Welt verbunden ist.
Gefühle von Angst und Hilflosigkeit diesem Schicksal gegenüber lösen darüber hinaus kindliche Erinnerungen und Gefühle des Verlassenwerdens, der Scham über das Angewiesensein oder auch die Vorstellung, zu Scheitern, und Schuldgefühle aus. Ausgleichende Formen von Zärtlichkeit und Zuwendung fehlen oft.

Insofern könnte man diese Lebensphase als ein „Werden zu sich selbst“ verstehen. Wenn es gelingt, im Alleinsein (auch: all eins sein – im Gegensatz zu Einsam sein) die vielen Beziehungen, die stattgefunden und prägend wirksam waren, innerlich lebendig zu halten und zugleich die Endlichkeit, Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens anzuerkennen.
Dann kann sich das herausbilden, was allgemein als Altersweisheit bezeichnet wird.
Erfüllung, die Überwindung des Getrenntseins ist Resultat eigener intellektueller und moralischer Leistung, eine Befreiung von vermeintlichen Zwängen zur Selbstrechtfertigung, zur Selbstdarstellung, offen für Dankbarkeit und Würdigung.
So kann der Mensch, der sich einsam fühlt und sich um sein Selbst und seine Versorgung sorgt, zu sich kommen und annehmen, wie es ist. Wie schon zuvor im Leben macht es wenig Sinn, im Gegeneinander stecken zu bleiben; es ist spätestens jetzt Zeit mitzugehen.

In all dem ist es wichtig zu sehen, was der Philosoph Wittgenstein feststelle: „Woran wir glauben, hängt von dem ab, was wir lernen“; was wir allerdings lernen hängt von der Zeit und der Gegend, in die wir geboren wurden, von unseren Beziehungen, Traditions- und Sprachgemeinschaft ab.
Insofern braucht jeder, auch ein einsamer Mensch, sozialen Kontakt, so dass Mit-Einsamkeit weniger eine Handlung ist, als vielmehr eine Haltung, die hilft, die eigene Hinfälligkeit zu akzeptieren.

„Einsam ist, wer die Schönheit zu erleben und vor ihr zu sagen weiß. Es ist die Einsamkeit der Berufenen, er darf die Kinderwelt und das Kinderleben der anderen nicht teilen. Dafür hört er die Stimmen, die jene nie hören. Und außerdem gibt es für seine Einsamkeit, wie für jede, die Lösung und Erlösung: das Erkennen des Einen und Ganzen hinter allen Vereinzelungen.“ Hermann Hesse, Brief 1947

Quelle für Daten und Anregung zum Artikel: Theologisches Seminar Herborn, Alterseinsamkeit – Konvolut eines theologischen Annäherungsversuchs für die Prüfung im Fach Theologische Gegenwartsfragen, 2018, Christin Neugeborn
wobei ich (Autor Dr. Alfons Lindemann) so manche theologische These nicht übernommen habe, da auch anders auslegbar.
Fotos: Lindemann

Literaturliste zur Neugebauer-Arbeit

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