Die frühe Beziehung zum Ungeborenen

Nicht nur Bilder, auch Phantasien, Erwartungen und Vorstellungen der Eltern und Großeltern
vom Kind prägen den Umgang mit der Schwangerschaft; wie auch die spätere Beziehung zum Kind.

Erste Ultraschallbilder: sie sind so viel mehr als nur ein Ultraschallbild: Eltern entwickeln schon früh ein Band zu ihrem Kind.

Auch Ängste, stressige Lebensumstände oder gar traumatische Eindrücke; das Ernährungsverhalten der Mutter und die Liebesbeziehung zum Vater haben Einfluss auf Entwicklung des Kindes und auf die Beziehungsgestaltung.

In Heidelberg kämpft der Psychoanalytiker Dr. med. Ludwig Janus seit Mitte der 1970er Jahre, in denen das Thema „sanfte Geburt“ (Frederik Leboyer) oder Wilhelm Reich (Kinder der Zukunft) in der Medizin und Psychologie sehr präsent war, für eine größere Beachtung frühester kindlicher Erfahrungen.
Denn prä- und perinatale Erfahrungen (also vorgeburtliche und Erfahrungen rund um die Geburt herum) scheinen für die spätere individuelle Entwicklung, wie auch für gesellschaftliche Entwicklungen und sogar bei kriegerischen Auseinandersetzungen (siehe dazu in einem weiteren Artikel) von Bedeutung zu sein.

Nach dem zweiten Weltkrieg hatten sich in Deutschland die Geburten von zu Hause in die Kliniken verlagert.
Mitte der 70er Jahre kam es dann zu einer ganzen Reihe an Umstrukturierungen in den Geburtskliniken, z.B. wurde „Rooming in“ eingeführt (Kinder blieben nach der Geburt bei der Mutter, statt in großen Neugeborenen-sälen) oder alternative Geburtsmöglichkeiten im Geburtsstuhl oder in der Badewanne wurden angeboten – statt dem (für das Klinikpersonal bequemer) liegen im Bett, usw.
Denn immer stärker wurde bewusst, dass Kinder bereits im Mutterleib Vorformen von Bewusstsein haben; während bis dahin Babys als „unbeschriebenes Blatt“ galten, als reine Reflexwesen. Sie wurden sogar als schmerzunempfindlich angesehen.

Wenn dem so ist, dass Kinder mit ihren Eltern schon vor der Geburt interagieren (kommunizieren, Kontakt haben, sich mitteilen, sich verbinden, sich verständigen), wirft diese Erkenntnis die Frage auf:

Kann und sollte man diese Bindung schon vor der Geburt fördern?

Hier schallt der Papa die Herztöne seines Kindes und schaut sich mit der Mutter das Kind im Mutterleib an.

Die sogenannte Mutter-Kind-Bindungsanalyse (auf der Internetseite die 3 Striche anklicken, um zu den inhaltlichen Kapiteln zu kommen) gab eine Antwort darauf.
Sie kann dazu beitragen, dieses Miteinander zu stärken. Allgemein lässt sich sagen:
Die Bindungsanalyse will für die frühe Beziehung zum ungeborenen Kind sensibilisieren sowie den Blick auf Schwangerschaft und Geburt neu ausrichten.

In den 1990er-Jahren entwickelten die Psychoanalytiker Jenő Raffai und György Hidas das Konzept der „Bindungsanalyse vor der Geburt“. Raffai hatte bei seiner psychotherapeutischen Arbeit erkannt, wie bedeutend die Qualität der vorgeburtlichen Erfahrungen und Beziehung für die spätere Entwicklung ist.
Er hatte zuvor bei Kindern mit schizophrenen Psychosen herausgefunden, dass deren Mütter während der Schwangerschaft ein traumatisierendes Ereignis erlebt hatten.
Deshalb kamen er und ein Psychoanalytikerkollege Hidas auf die Idee, mit Schwangeren zu arbeiten, quasi vorbeugend, um Bindung und Vertrauen zwischen Mutter und Kind frühzeitig herzustellen; eine Art Psychoprophylaxe, die sie in dem Buch Nabelschnur der Seele beschrieben.

Die Methode der Mutter-Fötus-Bindungsanalyse fand dann über Ludwig Janus Ihren Weg von Ungarn nach Deutschland, wo nun Psychotherapeuten, Hebammen, Ärztinnen, Sozialarbeitern oder Physiotherapeuten eine Weiterbildung zum Bindungsanalytiker machen können.
In der Praxis wird in der Regel in drei Vorgesprächen die Motivation der Schwangeren und des Vaters, an einer Bindungsanalyse teilzunehmen, geklärt. Es geht dabei um eine emotionale Beziehungsförderung zwischen Mutter, Kind und Vater während der Schwangerschaft. Weitere Fragen richten sich auf den bisherigen Verlauf der Schwangerschaft, die soziale Situation der Eltern, auf eventuell vorangegangene Geburtserfahrungen, Fehlgeburten, Schwangerschaftsunterbrechungen und darauf, ob die Schwangerschaft gewünscht entstanden ist, spontan oder über assistierte Befruchtung.
Ziel ist es, das vorgeburtliche Kind möglichst vor einer ungefilterten, meist unbewussten Weitergabe von konflikthaften Beziehungs- und Bindungsmustern zu schützen.
Die Bindungsanalyse selbst beginnt mit einer angeleiteten Entspannung, in der die Schwangere Kontakt zu ihrem Körper, zur Gebärmutter und zu ihrem Kind aufnimmt. In dieser Stunde stellt sich die Frau auf die Wahrnehmung ihres Kindes ein, erspürt es in seinen Bewegungen, lauscht auf seine Mitteilungen, sagt dem Kind hörbar oder leise, was sie von ihm fühlt und versteht, und tritt so mit ihm in Verbindung.
Sich für den Kontakt zu sich und dem, was in einem passiert bzw. in der Partnerin passiert, Zeit zu nehmen bildet in der hektischen, von Medien durchzogenen Welt, sozusagen die Basis für Selbst- und Fremdfürsorge, für den Kontakt zu eigenen Intuition, statt fremdgeleiteter Regelungen.
Häufig tauchen in der Tiefenentspannung Bilder auf, Mutter und Kind tauschen sich auf einer bildhaften Ebene oder in Form von Erinnerungsfetzen, Wortgedanken und Dialogen aus, aber ebenso wichtig sind Empfindungen und Gefühle.

Gerade in der heutigen hektischen, mediendurchfluteten Zeit ist ein guter Kontakt der Frau zu ihrem Körper und eine gute Beziehung zu sich selbst schwieriger geworden. Das fördert Unsicherheiten und ruft allerlei Ratgeber auf den Plan, deren unterschiedlichen Empfehlungen weiter verunsichern. Zudem sind es zunehmend auch Ärzt*innen, die mit ihren Untersuchungen und angebotenen Vorsorgemaßnahmen den Eindruck eines fast pathologischen Zustandes erzeugen und zu oft Kaiserschnitte durchführen.

Sich Zeit zu nehmen, den eigenen Körper zu spüren und mit sich selbst in Kontakt zu sein, ist heute also keine Selbstverständlichkeit, aber sehr wertvoll für das Erleben eigener Selbstsicherheit und Kompetenz.

Als wissenschaftliches Erklärungsmodell für die Verbindung der Mutter mit ihrem Kind kann man die Spiegelneuronentheorie heranziehen. Die Spiegelresonanz im Gehirn, über die auch Babys von früh an mit Imitation reagieren, bleibt ein Leben lang die Basis für spontanes und intuitives Verstehen und soziale Kommunikation. Heute weiß man, dass das Wahrgenommen- und Gespiegeltwerden für Säuglinge emotional und neurobiologisch lebenswichtig ist und die Grundlage für die Entstehung von Urvertrauen im gesunden Mutter-Kind-System bildet. Stress jeder Art (äußerer wie innerer, bewusster wie unbewusster) vermindert die Aktivität der Spiegelneuronen. Hier kann die Bindungsanalyse präventiv wirksam sein.

Typischerweise beginnt die Bindungsanalyse zwischen der 15. und 20. Schwangerschaftswoche und begleitet Kind und Paar bis zur 36. Woche. Die Sitzungen finden einmal in der Woche für 50 Minuten statt. Von der 35. Schwangerschaftswoche an beginnt die sogenannte Abschiedsphase, in der Mutter und Kind sich auf die Trennung in der Geburt und das Wiedersehen in einer neuen Welt vorbereiten. So sollen Mutter und Kind als Team für die Geburt noch einmal gestärkt werden.
Auch Väter können in die Bindungsanalyse einbezogen werden, wenn sie das möchten. Denn für viele Väter ist das Baby im Bauch abstrakt und wird erst real, wenn sie es im Arm halten. Der Dialog mit dem Baby vor der Geburt führt indes bei Vätern dazu, dass sie bewusst aus dem Alltag heraustreten und sich intensiv mit dem Baby beschäftigen. Diese entstehende Bindung lässt dann auch den Frust, dass das eigene Kind nach der Geburt zunächst kaum etwas vom Vater wissen will, dass die Mutter die Quelle der Lust und vertraut ist, und dass der Mann auf seine Frau nun für eine Weile partiell verzichten muss, besser ertragen.
Die Bindungsanalyse als Achtsamkeitstraining, wie man heute sagen würde, ist keine Psychotherapie im eigentlichen Sinne – und wird daher auch bedauerlicherweise nicht von den Krankenkassen bezahlt. Dennoch sind unter den Klientinnen immer wieder Frauen, die eine Fehlgeburt oder eine Frühgeburt über Kaiserschnitt erlebt haben und während einer weiteren Schwangerschaft das Bedürfnis haben, diese Erlebnisse zu verarbeiten. Mit ihnen, wie auch sonst, wird im ganz normalen Rahmen der Stunden über eigene Erfahrungen, Phantasien, Erwartungen, Konzepte, Hoffnungen und Schwieriges gesprochen.
Denn Kommunikation – sich einander Mitteilen – ist auch in der Partnerschaft die Basis und das Modell für die Kinder, die Verständnis ermöglicht, Raum für Kompromisse und Miteinander, Vertrautheit und Vertrauen schafft.
Die emotionale Begleitung von Mutter, Kind und Vater ist damit eine Maßnahme der Frühprävention zur Vorbeugung gegen seelische Krankheiten im späteren Leben, die durch frühe Störungen von Beziehung und Bindung (siehe dazu den Artikel Bindung) ver­ursacht werden. Diese Vorsorge über die Bindungsanalyse, so zeigen erste, allerdings noch in kleine Studien, bewirkt, dass es zu weniger Frühgeburten kommt und dass postnatale (nachgeburtliche) Depressionen bei der Mutter seltener auftreten.

Als ich als junger Therapeut mit Schwangeren arbeitete, hatte ich die Erwartung, dass Schwangerschaft eine Zeit der Ausdehnung ist; dass neben dem körperlichen weich werden der Gewebe auch psychisch eine Entspannung und Ausdehnung zu erwarten wäre.
Eine solche Tendenz soll natürlich mit der Geburtsvorbereitung und der Beziehungsförderung oder Bindungsanalyse oder anderen therapeutischen Beschäftigungen bestätigt, wertgeschätzt und in die Ermöglichung gebracht werden – zum Wohl aller.
Überrascht war ich dann von der Erfahrung, wie viel Angst das Nachlassen der Spannung im Körper, das sich Ausdehnen macht. Die körperliche Anspannung ist nämlich ein wichtiger Bestandteil der Verdrängung; sie hilft Gefühle, wie auch schlimme Erinnerungen, zu unterdrücken. Ausdehnung, Entspannung aber lässt tiefere Wahrnehmungen zu, lässt manchmal auch Erinnerungen an schmerzhaftes Erleben wieder ins Bewusstsein treten oder eben auch empathisches Mitfühlen und Eintauchen in eine Trancewelt entstehen. Beunruhigend und zugleich voller Vorfreude oder Angst kommt werdenden Eltern ihr mehr an Verantwortung, wie auch die Erwartung von unbekannten, unüberschaubaren, gravierenden Veränderungen zu Bewusstsein – oft ohne das sie selbst es hätten so sagen können. Doch aus eigener Erfahrung, wie im eigenen Hineinspüren, beschäftigte mich das Ausmaß dieser Empfindungen in meiner Gegenübertragung.

„Die pränatale Psychologie, wie es offiziell heißt, ist eine transdisziplinäre Forschung von Wissenschaftlern aus Medizin, Psychologie und Biologie. arbeiten zusammen“, erklärt Ludwig Janus. „Nach heutigem Wissen muss man klar sagen: Ja, es gibt schon im Mutterleib ein seelisch-geistiges Wachstum“.
Aber nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht; vermutlich kann jede Mutter bestätigen, dass sie in der Schwangerschaft eine Beziehung zu ihrem Kind aufgebaut und mit ihm kommuniziert hat – mit, aber auch ganz ohne Bindungsanalyse. Wichtig ist es eben, sich Zeit miteinander zu nehmen und sich miteinander zu beschäftigen – unabgelenkt z.B. durch das Smartphone!

Quellen: Kerstin Mitternacht: Die frühe Beziehung zum Ungeborenen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.01.2022;
http://www.bindungsanalyse.de/; https://www.bindungsfoerderung-bindungsanalyse.de/bindungsanalyse/;
Fotos + Video: Lindemann
Bachelorarbeit von Stefanie Roos als vertiefender Literaturhinweis

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