Warum unterschätzt?
Immer mehr werden in der Medizin chronische Infektionen als Mitverursacher von Krankheiten
und als hoher Risikofaktor diskutiert, z.B. für folgende Krankheiten:
- Diabetes (Zuckerkrankheit) mit der Folge von Gefäßschädigungen z.B. an Augen und Nieren
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Arteriosklerose („Gefäßverkaklung“), Angina Pectoris (Engegefühl in der Brust bei Belastung), Herzinfarkt, Schlaganfall
- Niereninsuffizienz (nicht mehr ausreichend arbeitende Nieren, fehlende Entgiftungsfunktion)
- Bluthochdruck
- erektiler Dysfunktion (Erektionsschwäche)
- Frühgeburten
- Pneumonie (Lungenentzündung)
- Rheumatoider Arthritis (Gelenkentzündungen) mit der Folge von notwendigen Gelenkersatz-Operationen
- entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa
- aber auch bei der Entstehung von bösartigen Tumoren im Kopf-, Halsbereich, dem Atmungstrakt oder Magen und Pankreas (Bauchspeicheldrüse)
- Alzheimer Demenz
Was ist mit stiller Krankheit gemeint?
Die stille, schleichende und daher oft chronische, häufig nicht bemerkte, Erkrankung meint die Entzündung des Zahnfleisches (= Gingivitis) und, schwerer wiegend, die Zerstörung des Zahnhalteapparates (= Parodontose). Das kann bis zum Zahnverlust führen.
Insbesondere aber sind die schleichenden systemischen Folgen im Organismus (siehe oben) problematisch, da eine unzureichende Mundhygiene schwerwiegende Erkrankungen bis zum vorzeitigen Tod nach sich ziehen – wenn bakterielle Giftstoffe oder gar schädliche Bakterien in die Blutbahn und damit in den ganzen Organismus kommen und dann auch andernorts im Körper zu schwelenden Entzündungen führen.
Was und wie passiert da etwas in der Stille?
Die Mundhöhle ist die große Eintrittspforte für allerlei in den Organismus … und wie andere Körperoberflächen sind auch die Mundschleimhäute bakteriell besiedelt.
Einige Vertreter der Mundflora sind in der Lage, über die Zahnoberflächen zu wachsen und bakterielle Zahnbeläge (Plaques) zu bilden. Das sind zunächst lose, weiß-gelblich Ablagerungen, die mit richtiger Putztechnik zu beseitigen sind.
Neben genetischen und hormonellen oder medikamentösen Faktoren bei der Plaqueentstehung wichtig ist die Ernährung, insbesondere Weißmehlprodukte, die viel Klebereiweiß enthalten und die Haftung begünstigen.
Die Plaquebildung vollzieht sich in 4 Phasen:
- Lagert sich in Minuten bis Stunden auf der sauberen Zahnoberfläche ein zellfreier organischer Überzug an, der hauptsächlich aus Mukoproteinen des Speichels besteht.
- Nach Stunden bis 2 Tagen siedeln sich auf diesem Schmelzhäutchen Bakterien (grampositiven Kokken) an, die niedermolekularen Kohlehydrate (Zucker, Weißmehl) zu Säuren fermentieren und weiter Polysaccariden (langkettige Kohlehydratketten) synthetisieren. Diese bilden eine Energiequelel für die Plaquebakterien und spielen bei der Haftung und beim Aufbau der Plaques ein Rolle.
- Nach 3 – 7 Tagen kommt es zu Ansiedelung von gramnegativen Kokken und Stäbchen. Sie bilden weitere Polysaccariede (Zuckerketten) und Glycoproteine, die die Mikroorganismen an der Oberfläche miteinander verkleben.
- Eine über eine Woche ausgereifte Plaque enthält etwa 100-300 Millionen Mikroorganismen/mg Plaque.
Über die Zeit werden die Plaques mineralisiert und es bildet sich fester Zahnstein, dessen Kalzifizierung (Kalziumeinlagerung) von der Menge und Zusammensetzung des Speichels abhängt. Daher bildet er sich vorzugsweise zwischen den Zähnen gegenüber den Ausführungsgängen der großen Speicheldrüsen.
Hier bilden die rauen Oberflächen Ansatzpunkte für neue Plaques, ebenso wie an Karieslöchern im Zahn, Amalgamfüllungen, abstehenden Kronenrändern oder dort, wo die Zähne eng stehen und die tägliche Zahnhygiene erschwert ist. Auch Mundatmung und nachfolgende Mundtrockenheit begünstigt das Entstehen von Plaques.
Die Folge von Plaques können bakterielle Entzündungen des Weichgewebes, also Zahnfleischentzündung (Gingivitis) und des gesamten Zahnhalteapparates (Parodontitis), wie auch die Entstehung von Karies sein (Zahnfäule ist ein Prozess, bei dem sich die Zahnsubstanz langsam abbaut und schließlich ein Loch im Zahn entsteht).
Eine Gingivitis (Zahnfleischentzündung) kann jahrelang bestehen, ohne sich zu einer Parodontitis (Entzündung des Zahnhalteapparates) zu entwickeln. Bei guter Mundhygiene und professioneller Plaque- und Zahnsteinentfernung ist sie folgenlos reversibel (rückbildungsfähig).
Anzeichen sind dunkel bis bläulich-rote Zahnfleischfarbe, geschwollene Zahnpapillen, Zahnfleischbluten – spontan oder beim Zähneputzen – und Fötor ex ore (Mundgeruch).
Die Parodontitis (Zahnfleischentzündung) mit Knochenbeteiligung (Parodontose), so dass die Zähne ihren Halt verlieren, wandern und ausfallen. Parodontitis und Parodontose sind nur beschränkt, in den Anfangsstadien mit zahnärztlicher Behandlung, rückbildungsfähig.
Die frühen Stadien I und II der Parodontitis sind für die Betroffenen schwer von einer bloßen Zahnfleischentzündung zu unterscheiden. Wenn die Patienten feststellen, dass die Zähne beweglich werden oder wandern, liegt ein fortgeschrittenes Stadium III und IV vor. Von solch schwerer parodontaler Erkrankung sind 15 – 20 % der deutschen Bevölkerung betroffen.
Als Risikofaktor liegt die Parodontose auf gleicher Stufe mit den Risikofaktoren Rauchen und Diabetes mellitus.
Die große Problematik bei der Paradontose sind die entzündungserregende Stoffe:
Anfänglich können die Plaque-Mikroorganismen nicht durch die Schleimhäute in den Körper eindringen, ihre Endotoxine (Zerfallsprodukte der Bakterien) und Exotoxine (Stoffwechselgifte der Bakterien) schaffen das jedoch frühzeitig.
Ist die Immunabwehr des Körpers geschwächt (z.B. durch Diabetes, Schwangerschaft, Krankheit, Alter etc.) kann es dann zur Bakteriämie (eindringen der Bakterien ins Blut und damit in den gesamten Körper) kommen.
Bleibt die Entzündung der Schleimhäute im Mund über längere Zeit bestehen, so führt sie zu einer Zerstörung parodontaler Gewebe (Para = um herum; odont = Zahn) und zur Taschenbildung an den Zahnhälsen.
Dadurch verändern sich die Lebensbedingungen für die Bakterien und auch ihre Zusammensetzung.
Es entstehen schwimmende Plaques aus vorwiegend beweglichen gramnegativen, anaeroben (ohne Sauerstoff lebende) Bakterien, die in nun in erster Linie für das Fortschreiten der Paradontitis und die entzündlichen Veränderungen in den Blutgefäßen und den Organen des Organismus verantwortlich sind.
Daher kann die regelmäßige prophylaktische Zahnreinigung nur dringend empfohlen werden.
Bei 90 % der parodontal erkrankten Patienten reicht das aus und eine chirurgische Behandlung ist nicht notwendig.
Bei intaktem Zahnhalteapparat reicht die Gingiva (Zahfleisch) etwa 1 – 2 mm über die Schmelz-Zement-Grenze des Zahnes, so dass nur der Zahnschmelz sichtbar ist. Die Zahnzwischenräume sind mit Schleimhaut gefüllt. Der zahntragende Knochen reicht 1 – 2 mm an die Schmelz-Zementgrenze, die die Zahnkrone von der Zahnwurzel trennt.
Das Ausmaß der parodontalen Zerstörung kann mit einer Parodontalsonde gemessen werden. Zusammengenommen kann die Wundfläche 8 – 20 cm² betragen und durch die Ausstreuung von Mikroorganismen in die Blutbahn den Gesamtorganismus beeinflussen.
Bei „unerklärlich“ erhöhten Laborwerten von C-reaktivem Protein und der Neutrophilen-Elastase (Entzündungszeichen im Blutbild) sollte man an eine Beteiligung der Mundhöhle denken.
Zum Schluss noch ein Wort zu „pro Schwangerschaft ein Zahn“
Die Hormonumstellung während der Schwangerschaft hat Auswirkungen auf das Zahnfleisch. Das Gewebe reagiert stärker auf die bakteriellen Zahnbeläge. In Abhängigkeit vom Schweregrad der Parodontitis steigt das Risiko – bei moderater von 30 % auf 96 % bei schwerer Parodontitis -, dass eine mit Parodontitis erkrankte Frau – im Vergleich zu gesunden Frauen – ihr Kind untergewichtig und / oder vorzeitig zur Welt bringen.
Die Erfahrung älterer Generationen „pro Schwangerschaft ein Zahn“ lässt sich heutzutage leicht durch effektive Mundhygiene, ergänzt durch professionelle Zahnreinigung vermeiden. Die Hormoneffekte klingen nach der Entbindung wieder ab.
Natürlich spielt auch das Alter eine Rolle.
In Deutschland leiden in der Altersgruppe der 35 – 44 jährigen 43,4 % an einer moderaten und 8,2 % an schweren Parodontalerkrankung, während es bei den 65 -74 jährigen 44,8 bzw. 19,8 % sind.
Quellen: Hessisches Ärzteblatt, 9/2022, S. 495-501 Prof. Drs. med.dent. Peter Eickholz und Dettina Dannewitz
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