Eine kleine Senioren-WG mit engem Kontakt zu Vertrauten, eine Alternative zum Pflegeheim
Barbara und Dr. Alfons Lindemann aus Biebertal haben mit anderen Angehörigen der neuen Wohngemeinschaft für dementiell Erkrankte in der Wilhelmstraße in Gießen den gemeinnützigen Verein »Für-dich-da« e.V. gegründet.
Ziel des Vereins ist es, neben der sicheren Betreuung für die eigenen Angehörigen, das Modell dieser angehörigengeführten WG bekannt zu machen und die gemachten Erfahrungen an andere weiterzugeben.
Gerade im ländlichen Raum, wo etliche Menschen allein in einem Haus wohnen, bietet sich diese Unterstützungsform an.

Christine Steines berichtete am 14. April 2025 in der Gießener Allgemeinen; Foto: Oliver Schepp – Dieser Bericht ist an Christines Text angelehnt.
Gießen – Im Südviertel mit seiner Nähe zu zahlreichen Instituten der Universität gibt es viele Wohngemeinschaften. Seit 1. März 2025 werden die studentischen WGs von einem ungewöhnlichen Trio ergänzt: In der Wilhelmstraße hat der soeben gegründete Verein »Für-dich-da« ein Projekt für Menschen mit Demenz gegründet. Zwei Frauen und ein Mann leben dort miteinander in familiärem Rahmen, die Betreuung und Pflege wird von einer Hauswirtschafterin, einer Pflegekraft und Angehörigen geleistet.
Die 98-jährige Mutter des Psychologen und Arztes aus Biebertal war zuvor in der Rödgener Demenz-WG »Leben im Hopfengarten« untergebracht.
In dieser angehörigengeführten Wohngemeinschaft, die sich einen sehr guten Ruf erworben hatte, leben 12 an Demenz Erkrankte. Allerdings können 12 Personen in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung auch Stress bedeuten. Die Initiatoren der WG in Rödgen waren vor 18 Jahren Vorreiter, und ihr Konzept ist auch heute noch gut. Allerdings hängt solch ein privates Projekt an der Passung der Bewohner, Angehörigen und Pflegepersonen.
Dem Angehörigenpaar Lindemann fielen dort bald die problematisch erscheinende Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts auf, sowie aktuelle personelle wie pflegerische Mängel beim dort engagierten Pflegedienst und zuletzt die fehlende Reparatur des Aufzuges, der Barrierefreiheit ermöglichte. Nach Unstimmigkeiten mit den anderen Gesellschaftern entschieden sich das Paar sowie einige weitere Angehörige, ein eigenes Projekt auf die Beine zu stellen.
Der Verein mietete eine Wohnung in der Wilhelmstraße an und renovierte in Abstimmung mit dem Vermieter, einem Vereinsmitglied. Das gelang mit vereinten Kräften binnen 4 Wochen: Komplettsanierung, inklusive neuer Küche und neuem altengerechten Bad mit Toilette plus neuer Gäste Toilette. So wurde für das »Dreier-Team« ein Zuhause geschaffen, in dem sich alle wohl fühlen und in dem sie gut versorgt werden. Pünktlich, parallel zum Anschrauben der letzten Sanitärobjekte, konnten die Senior/innen in die neue, voll möblierte Wohnung mit ihren eigenen Sachen einziehen.
Einen Teil der Kosten für die Umgestaltung des behindertengerechten Badezimmers übernehmen die Pflegekassen, zudem zahlen sie einen Zuschuss für die Gründung einer Demenz-Wohngruppe.






Ein Zuhause für Menschen mit Demenz schaffen, das »Dreier-Team« fühlt sich wohl
In Deutschland leben derzeit rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz; sei es die Alzheimer Erkrankung, eine gefäßbedingte oder eine andere Form neurodegenerativer Defizite, die sich im Alter gehäuft zeigen: als Vergesslichkeit, Problemlöse-, Sprach- und Orientierungsschwierigkeiten, Ängste, motorischer Unruhe, Misstrauen, Reizbarkeit oder als aggressives Verhalten – je nach geschädigter Hirnregion und lebensgeschichtlichen Erfahrungen.

Auffällig, das Aufblühen der Bewohner in der neuen Umgebung schon nach wenigen Tagen; dank einer deutlich besseren persönlichen Betreuung und einem mehr an Miteinander, auch untereinander – z.B. beim Mensch-ärgere-Dich-nicht, beim Gemüseschnippeln, Staubsaugen, Spazierengehen.
Eine gut geführte Wohngemeinschaft kann eine Alternative zur Unterbringung in einem Altenpflegeheim sein, wenn alte Menschen ohne Unterstützung nicht mehr in den gewohnten vier Wänden bleiben können.
Der Tagesablauf ist so, wie die Senioren ihn von zu Hause kennen: Die Mahlzeiten werden frisch zubereitet und gemeinsam eingenommen, und bei allem, was in einem Haushalt zu tun ist, können sich die Bewohner ihren Fähigkeiten gemäß beteiligen. Gleichzeitig haben sie die Möglichkeit, sich jederzeit zurückzuziehen, wenn sie sich ausruhen möchten. Kreative Seiten kommen wieder zum Tragen und auch Lachen ist wieder zu hören.
Allerdings, so kann es sein, dass sich manches, sich entwickelnde problematische Verhalten in einer kleinen Gemeinschaft irgendwann auch nicht mehr zu bewältigen ist. Dann braucht es eine andere gute Lösung. Leider gibt es im Landkreis Gießen keinerlei Einrichtung für schwer dementiell Erkrankte – oft eine Situation, die Angehörige schier zum Verzweifeln bringt. Meist bleibt nur noch die Einweisung in eine Klinik übrig – die damit allerdings personell auch zu oft überfordert sind.

Die Pizza, ein Gemeinschaftsprodukt.
(Fotos: Lindemann)

Gratulation und Geschenke gab es aus dem Kreis der „Initiative demenzfreundliche Kommune, Stadt und Landkreis Gießen„
Mit dem Verein, so Barbara Lindemann, wolle man Senioren anregen, frühzeitig über die eigene, vielleicht nahe Zukunft, nachzudenken und andere Angehörige ermutigen, neue Wege zu gehen. Unter dem Dach von »Für-dich-da«, so die Idee, könnten weitere WGs entstehen, die jeweils in Eigenregie geführt würden.
Die Vereinsgründer sind davon überzeugt, dass künftig Eigeninitiative und bürgerschaftliches Engagement unumgänglich sein werden, um die Versorgung alter Menschen gewährleisten zu können. »Angesichts der demographischen Entwicklung sind neue Wohnformen sowohl in der Stadt als auch in dörflichen Strukturen dringend notwendig«, sagt Dr. med. Lindemann. »Da von Seiten der Politik, auch in der Agenda der neuen Bundesregierung, nichts zum Thema zu vernehmen ist und die Kommunen kaum noch über Mittel verfügen, wird es notwendig sein, sich privat zu organisieren und selbst organisiert Hilfesysteme aufzubauen, wie z.B. auch im Projekt „Gemeinsam in Biebertal“, in Senioren-Kreisen, als Demenz-Cafés, Senioren-Ausflügen oder der Nutzung der gemeindlichen Tagespflege.«
Vielen Senior/innen ist es wichtig, so lange wie möglich in den eigenen, vertrauten vier Wänden wohnen zu bleiben. Doch wie schnell kann es gehen, dass man dort allein ist. Gemeinsam kann durchaus schwierig sein, insbesondere, wenn man bislang fremde Menschen in die eigenen Räumlichkeiten lässt oder zu jemand anderem ins Haus zieht. Um so wichtiger ist es, rechtzeitig ins Gespräch zu kommen und sich kennenzulernen. Denn es ist nicht immer das Richtige, das Lebensende in einer stationären Einrichtung zu verbringen; und wenn es doch notwendig wird, ist der Umzug dorthin meist ein schmerzlicher Einschnitt.
Gemeinschaftliches Leben in einem quasi familiären Umfeld ist vor diesem Hintergrund das »kleinere Übel«. Die WG sei aber auch angesichts der Kostenexplosion in der stationären Pflege ein attraktives Modell, da sie finanziell günstiger sei, erklärt die Immobilienfachwirtin Barbara Lindemann. Der Eigenanteil im Pflegeheim liegt nach einer Erhebung des Verbandes der Ersatzkassen derzeit bei knapp 3000 Euro, er kann je nach Einrichtung und Region auch deutlich höher ausfallen. In der WG kalkuliert man mit Kosten, die pro Person um die 2000 Euro pro Monat liegen.
Voraussetzung für das Gelingen des non-profit-Projektes ist das Engagement der Angehörigen. Ebenso wie in der Rödgener WG ist die Einbeziehung der Söhne, Töchter oder Partner ein Grundpfeiler des Konzepts. Sie übernehmen am Wochenende Betreuungszeiten, kümmern sich um handwerkliche Dinge und entscheiden gemeinschaftlich über Anschaffungen.
Damit der Alltag funktionieren kann, hat der Verein aktuell eine erfahrene Hauswirtschafterin eingestellt und eine 24-Stunden-Pflegekraft engagiert, die eines der WG-Zimmer bewohnt. In Kooperation mit den Freiwilligenzentrum Gießen werden sich zwei ehrenamtlich Engagierende Menschen im Projekt „Dabeibleiben“ in der WG einbringen.
Langfristig suchen wir heimische Kräfte, die Freude am alltäglichen Zeitverbringen mit älteren Menschen haben und die die Betreuungsarbeit oder, z.B. als Krankenschwester oder Altenpfleger, auch pflegerische Aufgaben ohne Zeitdruck, übernehmen wollen.
Am Konzept wird in der Zukunft weiter gefeilt, doch die ersten Schritte sind getan.
Interessenten können sich an die Vereinsvorsitzende Barbara Lindemann wenden: Telefon 0172 657 6907