Spritzen-Angst und „keine Blutsehen können“

In diesem Beitrag sehen Sie das im Bilderbogen übliche Anfangsbild erst am Schluss des Artikels.
Dort ist es zugleich für Betroffene ein Therapieangebot
im Sinne einer heilsamen Konfrontationstherapie (ein psychotherapeutisches Verfahren) mit der das Angstlevel langsam heruntertitriert werden kann. Schauen Sie also Stückchenweise und immer wieder,
bis sie aushalten, was sie sehen und sich zutrauen es in Echt auszuprobieren.

Viele Menschen haben zwar Angst vor Nadeln, Spritzen, Schmerz, Folgen, Blut und/oder dem Zahnarzt. Dennoch sind die meisten Menschen trotzdem in der Lage, eine Behandlung wahrzunehmen. Denn Angst ist meist eine gesunde Reaktion auf eine bedrohliche Situation.
Bei manchen Menschen ist die Angst aber so stark, dass sich eine den Alltag beeinträchtigende Phobie entwickelt. Das ist eine, an den realen Gefahren gemessen, überzogene Angst vor bestimmten Situationen oder Objekten. So eine Angst ist dann krankhaft und zählt zu den psychischen Störungen.

Bei Kindern und Jugendlichen sind ungefähr 20-30 % von starker Angst betroffen. Meist tritt das damit verbundene Unwohlsein im Anschluss an erste unangenehme oder schmerzhaft erlebe Erfahrungen im Alter von 6-12 Jahren auf.
Im im Laufe des Lebens bessert sich die Symptomatik meist spontan,
Im Erwachsenenalter liegt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand an einer Spritzenphobie leidet – also eine Angst von krankheitswert entwickelt, nur noch bei 3 %.
Denn mit zunehmendem Alter werden immer mal wieder Behandlungen notwendig, die die Betroffenen nicht vermeiden können. Dabei wird häufig die Erfahrung gemacht, dass es doch irgendwie geht und die Realität auch nicht so schlimm ist, wie die Erwartungen.
Die natürliche, spontane Reaktion, die der Organismus vorgibt, um bedrohlich empfundene Situationen zu vermeiden, ist Flucht bzw. Vermeiden. Damit aber wird zugleich die Chance auf korrigierende Erfahrungen verpasst.
Neben dem kurzfristigen Erfolgserleben beim Vermeiden einer vermeintlichen Gefahr sind die möglichen langfristigen gesundheitlichen Folgen problematisch. die die Menschen in Kauf nehmen, um sich kurzfristig Unangenehmes zu ersparen. So werden wichtige Vorsorgetermine oder gar Behandlungen nicht wahrgenommen, Impfungen verpasst oder Zahnbehandlungen nicht in Anspruch genommen. Wenn man jedoch nur die Augen vor einem Problem verschließt, wird das Problem dadurch nicht gelöst; es ist immer noch da oder gar, nach gewisser Zeit, ein noch größeres Problem geworden.

Ziel einer Therapie ist es also, diese vorhersehbaren Konsequenzen der phobischen Vermeidungsverhaltens umzudrehen: „Ich nehme kurzfristig etwas Negatives in Kauf und stelle mich meiner angstbesetzten Situation, um langfristig positive Konsequenzen zu fördern, die mir gesundheitlich ein besseres Leben gestatten.“

Eines der unangenehmsten, stressig belastenden Gefühle für uns Menschen entsteht, wenn wir Ohnmacht und Kontrollverlust erleben. Die Betroffenen haben meist eine derartige Situation erlebt, wo es ihnen nach einer Spritze schlecht ging oder wo sie ohnmächtig geworden sind.
Das passiert insgesamt gesehen selten, da der Körper bei Angst / Stress viele Körpersysteme so einstellt, dass mehr Energie zur Verfügung steht, um das Problem zu lösen. Dazu steigen u.a. die Atem- und Pulsfrequenz sowie der Blutdruck, um Sauerstoff rasch in die Zellen und die produzierte Energie zu den Muskeln zu bringen, während Gehirn und Verdauungstrakt als hohe Energieverbraucher reduziert durchblutet werden. Die Angst ist also ein freundlicher Schutzmechanismus, den der Körper aus Erfahrungen entwickelt hat, um uns vor Gefahren und vor der Wiederholung von unangenehmen Erfahrungen zu bewahren.
Bei manchen Menschen ist es jedoch so, dass der Blutdruckanstieg von einem raschen Blutdruckabfall führt, was in der Stresssituation zu einer akuten Unterversorgung des Gehirns mit Blut und Sauerstoff führt, so dass eine Ohnmacht eintritt. Der Patient fällt um … und damit muss das Herz das Blut des Stehenden nicht mehr 40 cm hoch zum Gehirn pumpen, sondern beim Liegenden nur noch auf gleicher Höhe transportieren => der Mensch kommt wieder zu Bewusstsein.
Das ist bestimmt ein beeindruckendes Ereignis, das Erinnerungsspuren hinterlässt, die sich z.B. zur phobischen Vermeidung ähnlicher Situationen als Bewältigungsstrategie im Gedächtnis verankern können, um weiters Ohnmachtserleben oder Kontrollverlust zu verhindern. Dieser Mechanismus wird als klassische Konditionierung beschrieben: Ein Reiz, z.B. die Spritze, wird mit einer negativ erlebten Erfahrung verknüpft.
Durch das Vermeiden wird die Angst dann aufrechterhalten: operante Konditionierung = Lernen am Erfolg.
Hinzu kommt bei der Entwicklung von krankhafter Angst, dass es manchmal schwer fällt, zwischen einer realen, akuten Gefahr und einer vorgestellten, zukünftig möglichen Gefahr zu unterscheiden.
Stehen zudem gerade keine Bewältigungsstrategien für eine unbekannte Situation zur Verfügung, u.a. da in Aufregungssituationen die Hirndurchblutung gedrosselt wird und kreatives Denken zeitweilig nicht zur Verfügung steht, verstärkt sich die Angst und kann Übermächtig empfunden werden.

Dass es so schwer fällt, die Angst durch die Vernunft zu kontrollieren, liegt daran, dass in Situationen, die als bedrohlich eingeschätzt werden, sehr schnelle biologisch vorgegebene Reaktionen ablaufen. Die höheren Gehirnareale, die für die vernünftigen rationalen Entscheidungen zuständig sind, werden hier quasi umgangen. Da der Denkprozess zu lange dauern könnte, um einer Gefahr zu entkommen, wird von basalen Gehirnanteilen reflexhaft automatisiert reagiert. Es kann also zu irrationalen = unvernünftigen, der realen Situation nicht angemessenen Reaktionen kommen.
Allerdings: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ schrieb der österreichischer Neurologe und Psychiater Viktor Frankl (1905-1997). Wenn es – mit ein wenig Übung – gelingt, sich dieses Raumes bewusst zu werden und die Zeit des Aufenthaltes in diesem Raum – z.B. durch bewusstes Atmen oder bewusstes Muskeln anspannen und loslassen – zu verlängern, erhöht sich die Chance, dass unser Verstand die Art unserer Reaktion auf einen gegebenen Reis mitbestimmt. Das reflexhafte unbewusste Reagieren, die Konditionierung, kann also überwunden werden – wenn Verantwortung für das eigene Handeln übernommen und damit zugleich Kontrolle zurückgewonnen wird. Es gilt sozusagen vom Beifahrersitz auf den Fahrersitz zu wechseln, vom Ausgeliefertsein auf den Chefsessel zu wechseln.
Dazu hier eine Achtsamkeitsübung, die ich zufällig im Netz gefunden habe. Auch Übungen wie das Autogene Training oder die progressive Muskelrelaxation können hilfreiche Ansätze zur Selbststeuerung, Selbstfürsorge und zur Überwindung der Ohnmachtsgefühle sein.

Das nachfolgende Video erläutert, was beim Blutabnehmen passiert und steht stellvertretend für andere Situationen mit Spritzen. Zugleich ist das Video für Betroffene bereits eine Form der Therapie, eine Konfrontation mit der Thematik – ohne dass Schlimmes passieren kann. Sie sitzen gerade ganz sicher vor Ihrem PC, es droht keine reale Gefahr. Alles was Ihnen möglicherweise gefährlich vorkommt, sind die Bilder in Ihrem Kopf, denen Sie Raum geben können, die Sie aber auch stoppen (lernen) können.

Praktische ärztliche Fähigkeiten: Blutentnahme

Quelle bzw. Anregung zu diesem Artikel: Interview von Ute Strunk mit Dipl.Psych. Verena Rommel von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Mainz, Gießener Anzeiger, 26.10.2021

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