Autismus: Gesteigertes Wachstum der Amygdala beginnt bereits im Säuglingsalter

Die Amygdala im Gehirn und ein Ausschnitt auf eines ihrer Nervenzellen, 3D illustration. /Kateryna_Kon, stock.adobe.com

Bei Säuglingen, die später an einer Autismus-Spektrumstörung erkranken, kommt es zwischen dem 6. und 12. Lebensmonat zu einer Größenzunahme in der Amygdala, die als „Angstzentrum“ Sinneseindrücke auf ihre Bedrohlichkeit prüfen und im Notfall eine Stressantwort aktivieren.

Dies zeigt eine im American Journal of Psychiatry (2022; DOI: 10.1176/appi.ajp.21090896) veröffentlichte Beobachtungsstudie, die im Rahmen der „Infant Brain Imaging Study“ (IBIS) auch die Entwicklung beim fragilen X-Syndrom untersucht hat, einer weiteren mit kognitiven Störungen einhergehenden Entwicklungsstörung des Gehirns.

Die beiden Amygdalae haben Nerven­verbindungen mit den Augen, die potenzielle Gefahrensignale wahrnehmen,
mit den Gyri fusiformis, die als Zentren der Gesichtserkennung zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden, und dem orbitofrontalen Cortex, der eine schnelle Entscheidung über das notwendige Verhalten ermöglicht.
Vor allem die Verbindung zum Auge verleitet die Forscher zu Spekulationen, da der fehlende Augen­kontakt eines der frühen Zeichen der Kommunikationsstörung ist, die kennzeichnend für Autismus-Spektrumstörungen sind.

Die Forscher führten bei 408 Säuglingen ab dem 6. Lebensmonat insgesamt 1.099 Magnetresonanz­tomo­grafien des Gehirns durch, um das Größenwachstum zu beobachten. Darunter waren 270 Kinder, die wegen eines älteren Geschwisterkindes mit Autismus ein erhöhtes Erkrankungsrisiko hatten und von denen 58 später tatsächlich eine Autismus-Spektrumstörung entwickelten. Weitere 109 Kinder hatten keine Erkrankungsrisiken und entwickelten sich normal. Die letzte Gruppe bestand aus 29 Säuglingen mit einem fragilen X-Syndrom, einer häufigen angeborenen Ursache von kognitiven Entwicklungs­störungen.
Die Forscher fanden heraus, dass die Vergrößerung der Amygdalae bei den Säuglingen nach dem 6. Lebensmonat einsetzt und dass das Wachstum der Angstzentren mit dem Schweregrad der Erkrankung im Alter von 24 Monaten korrelierte. Dies macht es sehr wahrscheinlich, dass die Amygdalae an der Erkrankungsentstehung beteiligt sind, zumal es bei den Kindern mit fragilem X-Syndrom zu keiner ähnlichen Entwicklung gekommen ist.

Eine Größenzunah­me weist aber während der Gehirnentwicklung keineswegs auf eine bessere Funktion hin.
Hirnforscher sehen darin eher ein Zeichen einer Reifestörung.
Die Reifung besteht darin, dass sich bestimmte Verbindungen durch eine häufige Nutzung verfestigen, während andere abgebaut werden. Dies wird mit dem Beschnei­den von Obstbäumen verglichen und als „Pruning“ bezeichnet.
Das „Pruning“, so wird vermutet, erfolgt bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung nicht in ausreichendem Maße.
Am Ende kommt es zu einem Wildwuchs von Nervenzellen, der die Amygdalae vergrößert, aber gleichzeitig ihre Funktionsfähigkeit herabsetzt. Die Kinder wären dann nicht mehr in der Lage, angemessen auf äußere Reize zu reagieren.

Welche biologischen Veränderungen der Größenzunahne zugrunde liegen, ist unklar.; ebenso wie die Forscher weit davon entfernt sind, die Entstehung der Erkrankung erklären zu können.
Die Studie bestätigt aber die Vermutung, dass die Störung schon früh einsetzt und eine effektive Behandlungen, die den Ausbruch der Erkrankung verhindern könnte, bereits im 1. Lebensjahr beginnen müsste. Wie eine solche Behandlung, die ein Wachstum der Amygdalae verhindert, aussehen könnte, ist jedoch noch völlig unklar.

Beim fragilen X-Syndrom ist die Erkrankungsursache bekannt: die Störung im FMR1-Gen („fragile X mental retardation 1“) hat eine verminderte Produktion des Proteins FMRP zur Folge, das für die normale Ent­wicklung von Verbindungen zwischen Neuronen benötigt wird.
FMRP wird in großer Menge im Nucleus caudatus gebildet, einem Teil der Basalganglien, der auch an Lernvorgängen beteiligt ist. Interessanterweise kam es bei den Kindern mit fragilen X-Syndrom im Ver­lauf der Studie zu einer Vergrößerung des Nucleus caudatus, was die „Pruning“-Hypothese als Ursache von Entwicklungsstörungen im Gehirn bestätigt. 

Quelle: Ärzteblatt.de, Mittwoch, 6. April 2022

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