Die Angst-Kurve

Bei der Angst, einer hoch sinnvollen Schutzreaktion des Körpers, gilt es zu unterscheiden, zwischen
1. Real-Angst, wegen einer realen, jetzt gerade existierende Bedrohung und
2. der eingebildeten, vielleicht sogar neurotischen Angst, die sich allein in unseren gedanklichen Befürchtungen abspielt – ohne dass jetzt eine tatsächliche Bedrohung vorliegt – auch wenn sie früher möglicherweise einmal bestanden hat oder in Zukunft vorkommen könnte.

Im ersten Fall ist es sinnvoll, ernsthafte Schutzmaßnahmen einzuleiten (so weit möglich), so wie des die Angst einem „vorschlägt“; im zweiten Fall gilt es, nach Realitätsprüfung, sich wieder zu beruhigen.

Abb: Tilo Kircher, Kompendium der Psychotherapie: Für Ärzte und Psychologen

Die Abbildung zeigt, unterschiedliche Kurvenverläufe, je nachdem wie unser Denken und Handeln sich – in Abhängigkeit von ängstlichen Befürchtungen – entwickeln. Zugleich zeigt die Kurve Entscheidungspunkte = Abzweigungen auf, an denen Kurskorrekturen für Denken und Handeln in eine andere Richtung möglich sind.

Die Kurve, die mit „Befürchtung“ bezeichnet ist, zeigt den Verlauf, wie eine Entwicklung in unserer Vorstellung hochgerechnet wird und gedanklich möglich erscheint. Das Erleben suggeriert: „Wenn ich jetzt nicht unmittelbar fliehe, wird bestimmt etwas ganz Schlimmes passieren!“ Im Extrem kann diese illusionäre Kurve auch einen exponentiellen Verlauf nehmen, also eine nach oben offene Verschlimmerung annehmen.
Am Ende einer solchen Ausrichtung unseres Erlebens (das dem Betroffenen ja wie real erscheint) erlebt man Panik, eine ins „unendliche“ gesteigerte Angst. Diese Befürchtung aber baut auf völlig unrealistischen, nicht realen, also gerade nicht stattfindenden Annahmen und Hochrechnungen auf.
(Gerade in der Corona-Pandemie führen unter- oder übertriebene Einschätzungen des medial allgegenwärtigen Themas bei vielen Menschen zu – von außen betrachtet – unangemessenen Handlungsweisen; weil die Bedrohung durch einen unsichtbaren, mikroskopisch kleinen Virus mit unseren Alltagserfahrungen kaum zu fassen und einzuordnen ist.)

Nichts desto trotz verweist die körperliche Reaktion des Angsthabens darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung ist. Das muss aber nicht, wie Betroffene annehmen, im Außen sein. Es kann ebenfalls sein, dass im Inneren etwas aufgeklärt und berichtigt werden muss.
Die Alarmierungs-Reaktionen sind für oder in einen anderen Zusammenhang sehr sinnvoll oder sinnvoll gewesen. In der Regel entstehen sie im Kontext von anderen Erfahrungen aus früherer Zeit.
Die Zuordnung, was wohin gehört, sollte mit der Realitätsprüfung korrekt eingeordnet werden, um verständiger mit der Angst umgehen zu können.
Denn Betroffene in diesem Bereich erleben die Angst als schier unerträglich: schließlich geht (oder ging) es um Leben oder Tod! … wenn nicht jetzt gerade ganz real, dann doch in der Vorstellung – sei es als Erinnerung oder als Hochrechnung für eine mögliche Zukunft.
Der Schutz des Lebens geht da allem anderen vor.
(In der Corona-Pandemie erleben wir diesen Reflex gerade in den Reaktionen vieler Politiker.)
Da hilft es auch nicht, dass die Vernunft weiß, wie irrational die Angst ist.
Bei der Frage von Leben oder Tod dominieren unsere Gefühle vor dem Verstand, also die archaischen alten Reaktionsmuster vor den entwicklungsgeschichtlich später erst möglichen Denkvorgängen.

Wurde einmal eine negative Erfahrung gemacht, hilft die Angst, die Wiederholung vermeiden.
Die Kurve der „Vermeidung“ – rechtzeitig, vorzeitig weglaufen, aufgeben – folgt dem Gedanken:
„Diese Art der Beunruhigung oder Situation kennen ich! Wenn ich jetzt nicht unmittelbar fliehe, wird bestimmt etwas ganz Schlimmes passieren!“ Also ist es besser, die möglicherweise bedrohlich Situation oder Handlung zu vermeiden, gar nicht erst in die Situation einer Gefahr zu kommen, alles ängstigende und bedrohliche zu vermeiden.

Auch dieses Verhalten ist höchst sinnvoll – unter der Bedingung einer realen Gefahr.
Entsteht die Aktivierung dieses Mechanismus jedoch aus den eigenen Gedanken und Erinnerungsmustern ohne heute ernsthafte Bedrohung, führt das zu Übertreibungen im Erleben.
Gelingt es, diese unwillkürliche, eigentlich unserem Schutz dienende Reaktion, die bei Überdosierung jedoch selbstschädigend wirkt, willentlich zu kontrollieren und eine Entscheidung in Richtung Realitätsprüfung zu lenken, erlaubt dieser Schritt – nach Risikoabwägung und vorsichtiger Annäherung – eine Konfrontation mit der Realität.
Dabei zeigt sich, dass die erwarteten Problemfelder aus der Nähe deutlich anders aussehen und auch zu bewältigen sind; während sie aus der Ferne viel größer, mächtiger und bedrohlicher erschienen.
(Michael Ende hat dieses Phänomen sehr schön mit dem Scheinriesen Herrn Tur Tur in dem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ beschrieben.)

Dem Kurvenverlauf der „Konfrontation“ folgen alle biologischen Funktionen: sie haben ein mögliches Maximum; sie können nicht ins unendliche wachsen.
Beim Lampenfieber z.B. erleben viele Menschen dieses Phänomen – z.B. vor Prüfungen oder vor öffentlichen Auftritten. Da mischen sich Angst und freudige Erwartung zu einem Erregungszustand, der sich erst allmählich legt, wenn man sich der Situation stellt und sie mehr oder minder gut meistert.
Wenn sich die Angst zeigt, gilt es also immer wieder abzuwägen, an welcher Stelle man die Ausfahrt aus der anfänglichen Erregungskurve, die zu erhöhter Achtsamkeit (Vigilanz) und Bereitstellung von Energie für mögliche schnelle Reaktionen sorgt, nehmen will.
Je realistischer und informierter die Annahmen sind, desto passender die Deutung = Bedeutungsgebung.
Je vertrauter ein Gebiet, desto leichter die Wahl.

Dennoch ist es oftmals schwierig, die unwillkürlichen Schutzreaktionen des Körpers und deren Interpretation als Gefahr auszuhalten und sich anzuschauen, was wirklich passiert. Doch regelmäßig zeigt sich – wenn die Angst keinen aktuellen realen Grund hat, sondern einen virtuellen, der Vorstellung entspringenden, dass die Erregung mit anfänglicher Angststeigerung und dem Gefühl, es sei unerträglich, die körperlichen Reaktionen allmählich nachlassen (die Energie ist halt irgendwann verbraucht). Gelegentlich enden die Symptome auch plötzlich; nämlich dann, wenn das Verdrängte bewusst wird und man die wirklich passende Reaktion gefunden hat.

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