„Nichts in der Biologie macht sinn, außer im Lichte der Evolution“, lautet der Titel einer Arbeit des ukrainischen Genetikers Theodosius Dobzhansky (1900-1975).
Mit diesem Satz existiert sowohl für die Schizophrenie als auch für den Autismus ein Paradoxon:
Beide Krankheiten sollten längst verschwunden sein.
Stattdessen kommen beide Erkrankungen relativ häufig vor: die Prävalenz (Wahrscheinlichkeit) an einer Schizophrenie zu erkranken liegt für die Gesamtbevölkerung bei 1,5 %, die für Autismus bei 2,2 %. Dabei weisen beide Erkrankungen eine hohe Erblichkeit auf, wobei bei Geschwisterkinder von Patienten einzelne Symptome oder mildere Formen gehäuft vorkommen. Die Genetik ist hier also ein interessanter Faktor.
Die Autismus-Spektrum-Störung (siehe oben in der Abbildung) beginnen meist im 10. – 12. Lebensmonat, während Schizophrene Störungen zusammengesetzter geistiger Funktionen im frühen Erwachsenenalter beginnen.
Bei der Autismus-Spektrum-Störung fand man mittlerweile mehr als 1.000 Gene, die mit der Erkrankung, mit den Störungsmustern in Verbindung gebracht werden.
Es gibt also keine uniforme genetische Ursache. Entsprechend wird also nicht die Krankheit vererbt; es besteht bei Vorbelastung lediglich eine bestimmt Wahrscheinlichkeit, diese Krankheit zu bekommen.
Wichtig ist hier das Zusammenspiel von biologischer Gehirnreifung und Lernprozessen in der physikalischen (Motorik) und vor allem in der psychosozialen Umwelt (Aufmerksamkeit, Persönlichkeit und Sprache), die während der Entwicklungsfenster des Lernens in einer Umwelt vorhanden sind und angeboten werden – oder nicht.
Schauen wir zurück, denn während ihrer Entwicklung über ca. 2 Millionen Jahre war die Menschheit immer wieder Veränderungen der Lebensräume ausgesetzt war – bedingt durch Klimaveränderungen, aber auch durch die eigenen Wanderbewegungen und Beziehungsgestaltungen 1). Anpassung war da ein wesentlicher Motor der Evolution.
Genetisch sind dabei unter anderem Gen-Dopplungen oder Gen-Untergänge beteiligt, die letztlich erst die Variabilität durch die Ausprägung von Merkmalen mit möglich machten. Denn auf diese Weise konnte ein Gen mit einer Hauptfunktion auch Nebenfunktionen übernehmen. Eine Vielzahl von Dopplungen aneinander gehängt hat allerdings leicht zur Folge, dass es bei der Zellteilung zu Fehlpaarungen kommt. So konnten derartige Entwicklungen sowohl bessere Anpassungen an die Lebensbedingungen, wie auch Krankheit, Fehlbildung und Behinderung, bedeuten.
Eine erniedrigte Anzahl von Kopien aufgrund von Löschungen findet sich mit Schizophrenie , wohingegen eine erhöhte Anzahl von Kopien auf Grund von Dopplungen mit Autismus assoziiert.
Folge davon dürften Befunde sein, die bei Kindern mit Autismus eine leicht verminderte Gehirngröße bei der Geburt und eine dramatische Volumenzunahme des Gehirns während des 1. Lebensjahres zeigen. Danach war das Größenwachstum wieder reduziert, so dass die Gehirngröße im Erwachsenenalter wieder im normalen Bereich liegt.
Bei an Schizophrenie erkrankten Patienten hat man im Gegensatz dazu ein um 2 % geringeres Hirnvolumen gefunden. Zum Teil war die Volumenreduktion bereits in der Adoleszenz (im letzten Abschnitt zwischen Pubertät und Erwachsenenalter) manifest; wobei der Abbau der grauen Substanz (der Teile des Zentralnervensystems, der sich überwiegend aus Zellkörpern, den Neuronen zusammensetzt) im Verlauf der Erkrankung fortschreitet.
Man geht inzwischen davon aus, dass in der vor- und nachgeburtlichen Gehirnentwicklung, d.h. die Entstehung von Nervenzellen und deren Vernetzung sowie deren Myelinisierung (Ummantelung von Nervenleitbahnen, wodurch die Erregungsleitung hoch beschleunigt wird) unabhängig voneinander reguliert wird.
Dabei strukturieren Erfahrungen die Verbindungen im Gehirn. Das geschieht nicht überall gleich im Gehirn, vielmehr geht die Gehirnentwicklung mit der Spezialisierung von Gehirnbereichen einher. Diese wiederum funktionieren im Verbund, d.h. als integrierte Systeme.
Auch hier geht man davon aus, dass sowohl in Richtung Spezialisierung als auch in Richtung Integration ein Gleichgewicht zwischen den Prozessen erreicht werden muss.
Ein Zuviel an Spezialisierung (mit den damit verbundenen Sonder- und Hochbegabungen) und ein zu wenig an Integration dürfte also bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ADS) vorliegen. Denn man geht davon aus, dass eine funktionelle Konnektivität (Verbindung von Nervenzellen) und damit Synchronisierung des zeitlichen Verlaufs der Hirnaktivierung notwendig ist, um komplexe gedankliche Aufgaben zu bewältigen.
Bei der ADS konnte inzwischen mit bildgebenden Verfahren gezeigt werden, dass nicht nur geringe, sondern auch gesteigerte und damit dysfunktionale Konnektivität (unzureichende oder fehlende Funktion) zwischen verschiedenen Bereichen des Gehirns besteht.
Entsprechend unterscheidet man bei der Schizophrenie zwischen Negativ- und Positivsymptomen, wobei verringerte Kopien bestimmter Gene mit der Ausprägung von Positivsymptomen, zusammenhängt, während die höhere Kopienzahl mit einem erhöhten Schweregrad der Negativsymptome verbunden war.
Die Größe von normal entwickelten Gehirnen liegt somit – ebenso wie die Anzahl bestimmter Gene – zwischen denen von Patienten mit positiv-symptomatischer Schizophrenie und Patienten mit Autismus.
Quelle: Zusammenfassung Lindemann nach einem Artikel von: Spitzer M., Editorial Nervenheilkunde 2022; 41. 294-307
- ) Literatur dazu: David Graeber + David Wengrow: Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit, 2022, Klett-Kotta