Angst – Dein Freund und Helfer (3)

Ein Beitrag zu einer Veranstaltung der Kulturinitiative Biebertal am 7. Juli 2022 in der Mehrzweckhalle Vetzberg, der so vermutlich nie gehalten werden wird, der lediglich ein weiterer Gedankenfluss zu diesem komplexen Thema ist.
Solche Schreiberei dient mir zur Klärung der eigenen Vorstellungen … und ich finde es gut, Sie als Leser an solchen Prozessen teilhaben zu lassen.

Quelle: de.statista.com

Guten Abend,

In unserer psychologielastigen Runde von zwei Diplom Psychologinnen und einem ärztlichen Psychotherapeuten, obliegt mir heute Abend die Aufgabe, etwas zu den physiologischen Vorgängen in unserem Körper zu sagen.

Bei den Vorbereitungen dazu habe ich allerdings gemerkt, dass es auch für Sie als Publikum lohnenswert sein dürfte, Onkel Google oder eine andere Suchmaschine in Ihrem PC mit dem Begriff „Angst“ zu füttern. Denn dort finden Sie vielerlei wirklich gute Systematiken, Krankheitsdefinitionen, Hintergründe, Erklärungen, Umgangsweisen usw.
Allerdings ist man als Laie mit alledem oft überfordert, kann die Relevanz der Daten schwer einschätzen.

In der Uni würden Sie hier nun eine Powerpointpräsentation mit Aspekten aus diesem sehr umfänglichen Wissensfeld sehen.
Ich langweile und ärgere mich dann meist; weil Zeitaufwand und Lernerfolg in krassem Missverhältnis stehen; vermutlich aber auch, da mich diese Form des assistierten Lesens an meine Volksschulzeit erinnert, in der ich tatsächlich ein schlechter Leser war, weil ich aus Angst vor dem – von mir und anderen – als schlecht bezeichnetem Ergebnis das Üben einfach unterlassen habe.
Mein erstes Buch habe ich dann tatsächlich erst mit 18 Jahren gelesen. Es beschäftigte sich mit einem Inhalt, der mich damals interessierte – nicht mit von außen vorgegebenem.
Entsprechend hatte meine kurzfristig erfolgreiche Vermeidungsstrategie langfristig die fatale Folge, dass ich am Ende der Volksschule mit 14 Jahren, als ich mich für einen ordentlichen Beruf entscheiden sollte, hatte ich – trotz guter Schulnoten – keine Ahnung von der Welt.
Ich habe mich dann vor der Entscheidung, Werkzeugmacher zu werden, wie mir das Arbeitsamt vorgeschlagen hatte, da dort damals Arbeitskräfte fehlten, gedrückt und bin lieber weiter zur Schule gegangen. Das kannte ich schließlich.

Am Ende, so könnte man sagen, ist ja aus mir doch noch etwas geworden, wenn man das „promovierter Mediziner und Psychotherapeut“ als Kriterium für „Angehöriger einer gesellschaftlich eher hoch angesehene Berufsgruppe“ annimmt.

Ohne dass es mir bewusst war, habe ich mit diesem Lebenslauf schon einen Teil meiner Qualifikation als Experte für Angstthematiken in Selbsterfahrung mitgebracht. Den Rest haben Ausbildung und Patienten – auch aus Biebertal – freundlicherweise beigesteuert.

Um zuverlässige Diagnosen zu stellen, muss ein Arzt eine Vielzahl von Krankheitsbezeichnungen lernen.
Jeder dieser Termini ist mit Konzepten der Erkrankung, Symptombildern, Entstehungsursachen, Häufigkeiten, biochemischen und physiologischen Vorgängen, lebensgeschichtlichen Umständen, Behandlungskonzepten und mehr verknüpft.
Als „Studium generale“ ist das Medizinstudium eines der letzten Fächer in dem zu sehen ist, wie alles mit allem zusammenhängt; selbst in der medizinischen Fachsprache reicht das Spektrum vom Griechischen über Latein bis zum aktuellen Englischen und zur Statistik. Denn um Urteile und Entscheidungen besser zu verstehen, bedarf es eines reichhaltigeren Wortschatzes, als die Alltagssprache ihn zur Verfügung stellt – außerdem folgt unser Denken den Bildern und Worten, die wir vor einem Hintergrund in den Vordergrund stellen, um uns einen Begriff von der Welt zu machen.

Am Anfang des Lebens sind Kinder vor allem Neugierig und Wissensdurstig, dabei machen sie – neben all den ermutigenden Erlebnissen – auch unangenehme Erfahrungen. Die sollen natürlich nicht wiederholt werden, so dass Angst vor dem Schmerzhaften ein Schutzmechanismus zur Vermeidung von Gefahren wird.
Angst ist also eine freundliche Mitgift der Evolution.
Heutzutage kann, neben einer realen Bedrohung, jeder erdenkliche Reiz über assoziative Gedanken das Gefühl Angst und all die biologisch vorgegebenen körperlichen wie auch emotionalen, gedanklichen und handelnden Reaktionen auslösen; also auch die körperlichen Symptome, die sich physiologisch zur Aufrechterhaltung des inneren Geleichgewichtszustandes, z.B. der Körpertemperatur bei höherer Stoffwechselaktivität zur Lösung einer Problemstellung zeigen.

Schauen wir uns einmal den Wahrnehmungsprozess an, der eigentlich gar kein passives Wahrnehmen ist, sondern ein aktives Wahrgeben ist, so dass hier Eingreifmöglichkeiten in der Gestaltung unseres Welterlebens liegen:
4 Schritte sind es vom Ereignis zur Reaktion:
1. Gegeben sind Reize / Ereignisse – das wir beachten – oder auch nicht.
Nehmen wir nicht wahr, dass in China ein Sack Reis umfällt, bekommt diese Tatsache keinen Eintrag in unserem Bewusstsein. Unsere „innere Landkarte von der Welt“ behält an dieser Stelle eine Leerstelle.
Andere Dinge, die uns mehr interessieren, die häufiger in den Medien auftauchen, die uns belasten oder Gefahr bedeuten, finden hingegen Beachtung und bekommen einen mehr oder weniger bedeutungsschwangeren, emotional verstärkten, Eintrag in unserer Erinnerung.

2. Im nächsten Schritt muss die Relevanz des Reizes und seine Bedeutung für unser Leben geklärt und interpretiert werden.
Dafür hat unser Gehirn seine Erinnerungen zur Verfügung, die mit dem aktuellen Ereignis verglichen und in seinen Folgen hochgerechnet werden. Zur Alltagsbewältigung werden also Zusammenhänge hergestellt – die allerdings nicht immer richtig sind, die jedoch für Kohärenz sorgen (= in sich logische, zusammenhängende und nachvollziehbare Gedankengänge) – und Erwartungen bzw. Vorhersagen getroffen. Diese Wirklichkeitskonstruktionen werden an der Realität geprüft, ob die Wahrsagungen und Wahrscheinlichkeiten passen oder nicht. So lassen wir uns normalerweise von Eindrücken und Gefühlen leiten, wobei wir Vertrauen in unsere intuitiven Überzeugungen und Präferenzen setzen und sind oft selbst dann von der Richtigkeit unseres Denkens, Fühlens und Handelns überzeugt, wenn wir anderslautende Rückmeldungen erhalten.
So kann schon eine Dreijährige z.B. relativ gut Sprache nutzen, hat also eine gute grammatikalische Intuition, weit vor der Zeit in der sie die Grammatik in der Schule erklärt bekommt.
Unsere statistische Intuition ist allerdings nicht so gut, so dass es relativ häufig zu Über- und Unterschätzungen von Phänomenen kommt. Man nennt das Holo-Effekt.
Beim Spiel „6aus49“ z.B. spielen verrückterweise viele Menschen mit, in der Annahme, sie könnten gewinnen. Angesichts der Zahlen ist ein Gewinn für den Spieler aber höchst unwahrscheinlich (Berechnung der Wahrscheinlichkeit): die Chance liegt jedes Mal bei 1 : 140 Millionen – gegen den Spieler – für die Bank.
Oder: Für Viren hat sich z.B. bis 2019 kaum jemand interessiert, obwohl viele Menschen jedes Jahr einen Schnupfen hatten und viele Mitbürger z.B. an Hepatitis oder Gebärmutterkrebs sterben. Plötzlich aber, im Zuge medialer Infektion durch Sondersendungen erscheint vielen Menschen ein Corona-Virus – oft ohne Kontextwissen im Hintergrund – hoch bedeutsam und Überlebenswichtig. Verständlich wird dieses Verhalten, nimmt man den Abwehrmechanismus der Verschiebung in die Überlegungen auf: Über die Beschäftigung mit dem Thema Virus wird nun eine auch sonst bestehende Angst vor Krankheit und Tod mit dem Thema Sars-Cov-19 attribuiert. d.h. eine diffuse Angst wird nun einem Objekt zugeordnet. Zwar ist das Virus klein und unsichtbar, aber immerhin eine benennbare Bedrohung. Damit gewinnt das Prinzip Hoffnung wieder Oberhand – z.B. man könnte einen Impfstoff oder ein Heilmittel gefunden werden und den Bedrohungszustand beenden.

Wo zuvor pessimistische Unheilserwartungen im Vordergrund der Aufmerksamkeit stand, wird gefühlt vom passiven Opfer-Modus in den aktiven „Ich oder man kann da etwas tun“-Modus gewechselt. Der ist besser zu ertragen als Hilflosigkeit.
Zum Thema Verschiebung passt auch die Beobachtung, wie das Thema „Pandemie“ mit einem mikro-unsichtbaren Feind inzwischen
von dem makro-sichtbareren „Krieg in Europa und der Angst vor einem Atomkrieg und 3. Weltkrieg“ abgelöst wurde. Denn trotz viel höherer Infektionszahlen als je zuvor in der Pandemie in Deutschland wirkt das mit Bilder unterlegbare Zerstörungsdrama in der Ukraine realer und näher und medial wichtiger, als Herr Lauterbach.
Die Ängste haben hier einerseits die Seite einer realen Bedrohung wie sie auch durch Phantasien und Zukunftsprognosen emotional aggraviert (verschlimmert) werden.
3. Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt der Wahrnehmung und ihrer Bedeutungsgebung; Gefühle wirkverstärken das Erleben und sorgen für haltbarere Lerneindrücke.
Hat z.B. Sabine beim Einkaufen vergessen, den Lieblingskäse mitzubringen, könnte Michael das als „ich bin ihr also nicht wirklich wichtig“ interpretieren und sich schwer gekränkt fühlen. Sabine wurde beim Einkaufen jedoch lediglich davon abgelenkt, dass ihre Freundin anrief und etwas mitzuteilen hatte, das ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Ein Grund auf Michael´s Seite könnte z.B. ein Mangel an Selbstwertgefühl sein, so dass er immer wieder die Bestätigung von außen braucht, um sich gut zu fühlen.

4. All das setzt Verhalten / Reaktionen in Gang:
Gekränkt und um Aufmerksamkeit ringend würde Michael nun vielleicht einen Streit mit Sabine vom Zaun brechen und ihr Vorwürfe machen, was dann vermutlich zwar Zuwendung, aber nicht in der gewünschten bestätigenden und beruhigenden Weise nach sich ziehen würde. Stattdessen würde am Ende vermutlich die Angst vor Ablehnung und z.B. die Annahme, nicht liebenswert zu sein, bestätigt, womit er sein mangelndes Selbstvertrauen füttern würde.
Wir lieben es ja zu glauben, was wir eh glauben und suchen im außen ja auch gerne nach Bestätigung unserer vorbestehenden Glaubensorientierungen – denn Menschen, die das Gleiche denken, wie ich, die verstehe ich deutlich besser als andere und zudem bestätigen sie die Richtigkeit meiner Meinung – selbst wenn die völliger Unsinn ist.
„Milliarden von Gläubigen z.B. können sich nicht irren. Irgendetwas muss da schon dran sein, sonst wären es ja nicht so viele, die so denken, wie es mir beigebracht wurde.“

Zwar laufen die meisten Prozesse und Entscheidungen in unserem Körper unbewusst – also ohne unser Wissen und Wollen ab; Wissenschaftler schwanken da zwischen 98 und 99,9 %, und dennoch erleben wir uns als selbstbestimmte Wesen, die Einfluss au Verläufe nehmen können.
Bewusstes Handeln ist immer mit hohem Energieaufwand verbunden, weshalb auch unser Gehirn, das 1/5 unserer täglich aufgenommenen Kalorien verbraucht, dazu tendiert, Abläufe zu automatisieren und in Mustern zu standardisieren, da das für unseren Körper energietechnisch kostengünstiger ist. Daher muss neues Verhalten, wenn es langfristig erfolgreich sein soll, so lange geübt werden, bis die neuen neuronalen Verbindungen stabil und zu einer Datenautobahn ausgebaut sind, wo der Datenverkehr als neues Verhaltensmuster automatisiert wieder energiesparend funktioniert.
Was auch immer wir Tun, Denken, Fühlen und in den Vordergrund unseres Erlebens rücken, – ob wünschenswert oder nicht – wird immer zu Lernprozessen führen und zu neuen stabilen Reaktionsschablonen werden – ob wir wollen oder nicht.

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